Leben

Die Bahnhofsfalter

Es ist schön, nicht allein verrückt zu sein. Jeden ersten Mittwoch im Monat treffen sich Origami-Falter im Mannheimer Bahnhof, um gemeinsam Papier zu knicken.

Es ist schön, nicht allein verrückt zu sein. Das ist einer der Gründe für Sabine Albert, einmal im Monat von Karlsruhe nach Mannheim zu fahren. In einer Eisdiele im Hauptbahnhof trifft sie Menschen, die sie Extremfalter nennt. Menschen, die gar nicht anders können, als immer neue Modelle aus einem bloßen Stück Papier zu falten, darunter traditionelle Origami-Formen wie den Kranich, aber auch komplexe Drachen mit geschupptem Schwanz und Mosaikarbeiten, für die man tagelang vorfalten muss.

Albert ist gelernte Goldschmiedin und mittlerweile 70 Jahre alt. An der japanischen Papierfaltkunst fasziniert sie die Perfektion. Um die perfekte Rose hinzubekommen, hat sie nach einer Anleitung drei Wochen lang täglich viele Stunden experimentiert; hat die Falten mal näher an andere Falten, mal weiter weg gelegt, unterschiedliche Papierstärken und -farben ausprobiert. „Der Papierkorb war jeden Abend voll“, sagt Albert. Ihre Partnerin sagte: „Du hast einen Knall.“ Beim Origami-Treff sind alle so, jeder auf seine Art. Und mancher, der den Bahnhofsfaltern zu lange zuschaut, wird einer von ihnen.

„Jesses!“, sagt ein Mann, als ihm klar wird, dass fast alles, das auf den zusammengestellten Tischen des Eiscafés steht, aus gefaltetem Papier ist – Schere und Kleber sind tabu. Eine junge Frau mit rotgefärbten Haaren kommt an dem Dinosaurier von Albert nicht vorbei. „Wie lange haben Sie dafür gebraucht?“, fragt sie Albert. „Ich sag’s mal so: Ich habe 30 gefaltet, bis ich den hatte.“ Die junge Frau macht auch manchmal Origami, meist aus Geldscheinen, die sie verschenken will. Bislang hat sie es sich aus Büchern und Youtube-Videos selbst beigebracht. Vielleicht wird sie bald auch zu den Treffen kommen. Es gibt einiges, was sie sich gern abschauen würde.

Daniela Alles dagegen belächelte den Faltkreis anfangs. Im Januar kam sie mit ihrem zehn Jahre alten Sohn Louis zum Treffen. Louis hatte in einem Origami-Buch einen gefalteten Yoda gesehen und wollte die Star-Wars-Figur falten lernen. Seine Mutter saß daneben und sah zu. Basteln – das machte sie als Erzieherin mit ihren Kindergartenkindern wahrlich schon genug! Zu Hause fragte Louis sie immer wieder um Rat. Es ärgerte sie, wenn auch sie nicht weiterkam, und es hinterließ ein gutes Gefühl, wenn sie nach vielen Versuchen auf die Lösung stieß. Beim zweiten Treffen nahm sie dann doch selbst ein Stück Papier in die Hand, und ein paar Treffen später war nicht mehr zu leugnen, dass Origami auch ihre Leidenschaft geworden war.

Heute faltet sie Kolibris und Bettwanzen – Tierformen, die realistisch aussehen, gefallen ihr am besten. Es fasziniert sie, was in Papier alles drinsteckt; es herauszuholen treibt sie manchmal an körperliche Grenzen. „Mir ist schon richtig übel geworden, wenn ich etwas nicht geschafft habe“, sagt sie. Origami zwingt zur Geduld, nur wenn es gar nicht weitergeht, legt sie es beiseite. Mittlerweile faltet sie sogar mit den Kindergartenkindern und freut sich darüber, was sie dabei alles lernen: Feinmotorik, Ausdauer, Verständnis für Mathematik und Anatomie. „Bei vielen merkt man, dass sie besser werden wollen.“ Nach dem Falten spielen die Kinder oft noch mit ihren Figuren. Bald wird Daniela Alles sogar einen Vortrag über die japanische Papierkunst halten – ein Computerclub hatte beim Verein Origami Deutschland angefragt.

Das wird dann ungefähr so klingen: „Es begann im 6. Jahrhundert, als chinesische Mönche das Papier nach Japan brachten.“ Über viele Jahrhunderte wurden Origami-Modelle von Generation zu Generation weitergegeben. „So ähnlich wie bei uns Märchen.“ Erst in den fünfziger Jahren hat der Japaner Akira Yoshizawa Symbole erfunden, um Faltschritte grafisch darzustellen. Samuel Randlett erweiterte das System, das mit seinem 1961 veröffentlichten Buch „Art of Origami“ international Standard wurde. Im gleichen Jahr wurde in Amerika Robert J. Lang geboren. Lang ist Physiker und gilt als einer der bedeutendsten Origami-Künstler der Welt mit mehr als 500 dokumentierten komplexen Modellen, die er mit Computerprogrammen entwickelt hat. Die meisten sind wohlproportionierte Tiere, von denen besonders die Insekten mit ihren langen Beinen und Fühlern erstaunlich echt aussehen. So echt, dass es kaum vorstellbar ist, dass sie nur gefaltet sein sollen.

Unter den Bahnhofsfaltern gibt es nur einen, der eigene Modelle entwirft: der 16 Jahre alte Bodo Haag aus Wannweil bei Reutlingen. Manchmal fängt er einfach an und sieht nur dabei zu, was zwischen seinen Fingern entsteht. Auch bei dem Elefanten, den er in einer Freistunde in der Schule faltete, hatte er keinen Plan, nur die Idee, dass ein Elefant rauskommen soll. Komplexe Modelle entwirft aber auch er am Computer und nutzt dazu Langs Methoden. Seit April wurde Bodos Elefant auf Flickr mehr als 8000 Mal angeklickt. Unter seinen Bildern stehen lobende Kommentare von Origami-Liebhabern aus fernen Ländern – von seinen Freunden teilt keiner sein Hobby. „Sie finden die fertigen Modelle cool, aber sie fragen nicht, wie sie gemacht werden“, sagt er.

Um Neues zu lernen, fährt er auf Komplexfaltertreffen nach Lyon und anderswo; um einfach mal unter seinesgleichen zu sein, in den Bahnhof von Mannheim. Zwar sind die meisten viel älter als er, und manche der Modelle, die sie falten, schafft er ohne Anleitung, einfach weil er ihnen die Geometrie ansieht. Aber doch sprechen sie seine Sprache. Sie wissen, was er meint, wenn er über Berg- und Talfalten redet, über crease patterns und box pleating. Und er kann Louis etwas beibringen, dessen großes Vorbild er ist. Deswegen fährt er, wenn es die Schule zulässt, jeden ersten Mittwoch im Monat mit dem Zug nach Mannheim.
Vor zwei Jahren hatte es mit den Treffen angefangen. Volker Sayn, der Älteste in der Runde, bot an, nach Mannheim zu fahren, wenn Falter auf der Durchreise sind. Ein Eis und ein bisschen Austausch. Daraus wurde ein festes Treffen, zu dem manche bis zu drei Stunden mit dem Zug reisen.

Sayn ist ein freundlicher Mann, der oft lacht und einen mit den einfachen Formen fasziniert. Mit wenigen Kniffen hat er einen Hund gefaltet oder einen kugeligen Stern aus einem Streifen Papier. „Wenn man Papierstreifen knotet, kommt immer ein Fünfeck dabei raus.“ Warum das so ist, damit haben sich Mathematiker beschäftigt. Er braucht die Erklärung dafür nicht, ihm reicht der Zauber, der davon ausgeht. Sayn wirkt wie ein Großvater, der sich freut, wenn die ganze Familie zusammenkommt. Es macht das Glück noch größer, wenn man eine verrückte Leidenschaft mit anderen teilt.

Erschienen in der FAZ (Dezember 2015).