Leben

Geguckt wird, wo Leinwand ist

In den Neunzigern starben in Offenbach die kleinen Lichtspielhäuser. Dann kam Daniel Brettschneider. Und machte die ganze Stadt zum Kino.

In Offenbach gibt es kein Programmkino, keines, das auch Filme abseits des Mainstreams zeigt, keines, dessen Filmauswahl die Handschrift desjenigen trägt, der sie zusammengestellt hat. Aber es gibt Daniel Brettschneider, einen Filmenthusiasten, der mit seinen Veranstaltungen die cineastische Vielfalt zurück auf die Leinwand bringt, die Ende der neunziger Jahre verschwand. Damals mussten alle drei Lichtspielhäuser, die bis dahin in Offenbach existiert hatten, schließen. Aus „Universum“ und „Gloria“ wurden Penny und Rossmann. Aus dem Kinosaal des „Broadway“ wurde eine Garage. Zwar eröffnete 1999 das Multiplex-Kino Cinemaxx. Das aber bietet nur teilweise Ersatz, denn Filme, die keine Blockbuster sind, laufen dort nicht.

Das kann so nicht weitergehen, dachte sich Brettschneider. Der Mann ist 35 Jahre alt und sagt von sich, dass er im Jahr mehr Filme schaut, als es Tage hat, und dass er das schon sein halbes Leben lang tut. Am liebsten schaut er sie mit anderen und auf einer großen Leinwand. „Gute Filme werden noch besser, wenn man sie im Kino sieht“, sagt er. Und versteht eigentlich nicht ganz, warum. Denn Kino bedeutet ja auch: Schlange stehen, um mit fremden Menschen in einem dunklen Raum zu sitzen, von denen mindestens einer laut Popcorn isst, meistens sind es viele. Das nervt, oft stört es. Und dennoch: Im Kino „entstehen andere Stimmungen als zu Hause“, sagt Brettschneider.

Vor fünfeinhalb Jahren erfand er das Offenbacher Hafenkino, im Kulturzentrum Hafen 2, das damals noch an seinem alten Standort war. Von der Wiese aus projizierte er jede Woche einen seiner Lieblingsfilme auf eine Wand der Ölhalle, in der einmal Lastwagen geparkt wurden, die Öl transportierten, und die dann ein Ausstellungsort war, bevor sie im Zuge des Hafen-Umbaus zu einem Wohngebiet abgerissen wurde. Jedes Mal kamen zwischen 200 und 300 Leute, um sich Klassiker wie „Der letzte Tango in Paris“ und „Außer Atem“ unter Sternenhimmel anzusehen, aber auch aktuellere Filme wie „Gegen die Wand“ und „Rhythm is it!“. Als es draußen zu kalt wurde, machte er in einer ungenutzten Halle des alten Lokschuppens weiter, die zum Hafen 2 gehörte.

Ein Jahr später brachte Brettschneider den verwaisten Kinosaal im Deutschen Ledermuseum zurück ins kulturelle Leben. Seine beiden Leidenschaften, Filme und Essen, verbindet er dort zu der Reihe „Kino Kulinarisch“. Zu „Grand Budapest Hotel“ von Wes Anderson ließ er Gulasch mit Serviettenknödeln servieren und als Dessert Törtchen, die aussahen wie aus Mendl’s Bäckerei, die nur im Film existiert. Das oft ausverkaufte Format aus Gaumenschmaus und Film funktioniert auch in der „Alten Schlosserei“, einer zu einem edlen Veranstaltungsort umfunktionierten ehemaligen Industriehalle der Energieversorgung Offenbach.

Der Orte sind viele, der Möglichkeiten ebenso. Brettschneider hat auch „Stummfilm und Ton“ ins Leben gerufen, eine Reihe, die er mit Britt Baumann vom Amt für Kulturmanagement kuratiert. Ein Beispiel dafür: „Nosferatu“ aus dem Jahr 1922 begleiteten „Element of Crime“-Schlagzeuger Richard Pappik und Cellist Tobias Unterberg mit selbstkomponierter Musik. Brettschneider legte nach, mit „Kino International!“, Veranstaltungen mit Filmen in Originalsprache mit Untertiteln, und mit dem „Ladenkino“. Dabei wird einmal im Monat der Fahrradladen Artefakt zum Lichtspielhaus. Die Zuschauer sitzen dann dort, wo normalerweise Fahrräder zum Verkauf stehen, auf der Leinwand spielen Fahrräder mindestens eine Statistenrolle. Gerne lädt Brettschneider auch den Regisseur zur Vorstellung ein.

So unterschiedlich Brettschneiders Kinoreihen und die Orte, an denen sie stattfinden, sind, eines ist immer gleich: Vor jedem Film sagt Brettschneider, warum er ihn ausgewählt hat, und jedes Mal ist er aufgeregt. In Jeans und Jackett tritt er vor die Leinwand, einen Zettel mit Stichpunkten in der Hosentasche, ein Glas Wasser in der Hand gegen den trockenen Mund. Dann blinzelt er ins Publikum und spricht leidenschaftlich über die Leistungen der Schauspieler oder etwas anderes, das ihn an dem Film berührt, den alle gleich sehen werden. Über Christopher Nolans Science-Fiction-Werk „Interstellar“ sagte Brettschneider zum Beispiel, er zeuge von einer Liebe zur Unterhaltung, die, so inszeniert, doch nur ein Synonym für Kunst sein könne. Unbegreiflich sei ihm, wie viel daran genörgelt worden war und wie wenige Auszeichnungen der Film bekommen hatte. Für ihn: „Ein kühner, grandioser Liebesfilm.“

Filme, die ihm gefielen, unabhängig von der Kritik, hatte vor vielen Jahren auch der Kunstlehrer Hansjörg Rindsberg ausgewählt, für seinen Unterricht am Offenbacher Albert-Schweitzer-Gymnasium. Und seinen Schüler Daniel Brettschneider damit für das Medium begeistert. Rindsberg verstand Film als eigene Kunstform, nicht als Medium der Literaturvermittlung wie an Schulen sonst so oft. Er zeigte Filme, die ihn bewegten, und keine, die ein Lehrplan vorsah. Statt um den Inhalt ging es ihm darum, wie der Film wirkt und warum. Wie zum Beispiel wird Angst erzeugt? Welche Musik spielt dabei, spielt überhaupt Musik? Wie muss die Kamera stehen, wie müssen die Personen stehen? Es lag nicht zuletzt an diesem Lehrer, dass Brettschneider in Frankfurt ein Lehramtsstudium begann. „Es faszinierte mich, wie Lehrer bei Schülern Interesse wecken können, unabhängig vom Stoff“, sagt er. Es war auch die Zeit, in der er sich oft mit Freunden im Chamäleon traf, einer Kneipe im Offenbacher Bahnhofsviertel. Dort spielten sie Tischkicker, tranken Bier und redeten von Projekten wie schönen Läden und guten Bars. Projekte, die schon deswegen scheiterten, weil sie nie versuchten, sie umzusetzen.

Nach ein paar Semestern aber wurde alles anders. Brettschneider brach das Studium ab, um in Berlin Regie zu lernen. Aber das weitläufige Berlin war nichts für ihn, das Filmgeschäft erschien ihm zu hart, und er vermisste seine Heimatstadt. Nach einem halben Jahr kam er zurück. Nun, das wusste er, war die Zeit der Träumerei vorbei. Er fing an, in Frankfurt Erziehungswissenschaften zu studieren. Vor allem die Vermittlungsprozesse zwischen Kunst und Didaktik interessierten ihn. Heute, als diplomierter Erziehungswissenschaftler, sagt er: „Die beste Didaktik ist, die Didaktik weitestgehend wegzulassen und authentisch zu sein.“ In der Auswahl von Filmen bedeutet das, nicht dem Publikum gerecht zu werden, sondern dem Medium. Schülern würde er Filme wie „Wege zum Ruhm“ von Stanley Kubrick, „Funny Games“ von Michael Haneke und „Sie küssten und sie schlugen ihn“ von François Truffaut zeigen. „Man muss aushalten, dass sie auf dem Stuhl hin und her rutschen und sich langweilen. Aber vielleicht erreicht man sie auch“, sagt er.

Auch dem Offenbacher Publikum will Brettschneider etwas zumuten. Nachdem er das „Hafenkino“ mit alten und neuen Klassikern bekannt gemacht hatte, zeigte er auch Filme, die keine Kassenschlager waren und sind, und nahm in Kauf, dass manchmal statt 300 nur 19 Zuschauer kamen, etwa bei „Paris, Texas“ von Wim Wenders.

Der Erziehungswissenschaftler will unterhalten, aber schon auch erziehen. Er nennt es anders, sagt, es habe sich etwas geändert bei den Zuschauern. Leute, die zuerst die leicht bekömmlichen Filme von „Kino Kulinarisch“ konsumiert hätten, schauten heute auch Dokumentarfilme auf Persisch mit englischen Untertiteln. Und ja, auch Streifen wie „Die Liebe und Viktor“ sind ausverkauft. Dieses Erstlingswerk von Patrick Banush wurde 2009 mit einem Budget von nur 10 000 Euro produziert und war seither nur wenige Male auf der Leinwand zu sehen. Blockbuster verurteilt Brettschneider nicht, im Gegenteil. „Ein Leben ohne Hollywood kann ich mir nicht vorstellen“, sagt er. „Dirty Dancing“ hat er schon 100 Mal gesehen und jedes Jahr mindestens einmal gezeigt. „Er verhandelt alles, worum es im Leben geht, und er hat diese magischen Momente wie die Tanzszene auf dem Baumstamm und die Hebefigur im Wasser“, schwärmt er. Brettschneider liebt auch den Starkult von Hollywood, sein Profilfoto auf Facebook hat er in der Pose des jungem Marlon Brando inszenieren lassen.

Selbst einmal mit einem Film berühmt zu werden, dagegen hätte Brettschneider, wäre es anders gelaufen, nichts einzuwenden gehabt, er hatte das im Hinterkopf bei seinem zweiten Studium. Dass er Kino- und nicht Filmemacher geworden ist, bereue er trotzdem nicht, sagt er. Ohne ihn würden viele Leute viele gute Filme schließlich gar nicht sehen. Und weil Brettschneider zum Kinomachen nicht unbedingt ein Kino braucht, kann er auch ganz gut davon leben.

Die Leitung des Hafenkinos hat er vor anderthalb Jahren allerdings abgegeben. 2014 war der Hafen 2 in einen Neubau wenige hundert Meter vom alten Standort entfernt gezogen. Wie viele andere hatte Brettschneider den Charme des alten Lokschuppens geliebt. Die neue Veranstaltungshalle im jetzigen Kulturzentrum ist als Winter-Spielort zwar komfortabler, aber das Erlebnis, sagt Brettschneider, sei früher ein anderes gewesen. Hinzugekommen sei, dass er andere Gewinnvorstellungen gehabt habe als das Paar, das heute den Hafen 2 betreibt, vor allem aber, dass neben den Filmreihen im Ledermuseum die Herausforderung lockte, auch in Frankfurt Kino machen zu können: Mit dem Verein Lichter Filmkultur ist er seit zwei Sommern Veranstalter des Freiluftkinos im Hof des Cantate-Saals neben dem Goethehaus.

Ende Januar hat Brettschneider wieder eine Filmreihe begonnen. Der „Broken Dreams Club“ ist für Filme reserviert, die vom Scheitern handeln. Freunde hatten ihm abgeraten, Offenbach sei noch nicht so weit, warnten sie. Auch Brettschneider zweifelte ein bisschen daran, dass es für sein neues Projekt Publikum geben würde. Doch entgegen seinen Befürchtungen kamen zum Auftakt nicht nur Freunde und Bekannte. Brettschneider zeigte „Amy“, einen Dokumentarfilm über Amy Winehouse. Als Ort für den „Broken Dreams Club“ hatte er das Chamäleon gewählt, die Kneipe, in der er einst davon geträumt hat, Offenbach besser und interessanter zu machen.

Erschienen in der F.A.S. (Februar 2016)