Reise

Herr Bülk und das Meer

Mit seinen bunten Fischerbooten und den alten Reetdach-Katen sieht Gothmund so aus wie ein Dorf aus dem Bilderbuch. Von einem, der noch lange so weitermachen will.

Die Fischer von Gothmund zu erreichen ist alles andere als leicht; ihre Handys sind grundsätzlich aus, und auf dem Festnetz erreicht man allenfalls Ehefrauen oder Mütter, die entweder sagen, dass der gewünschte Gesprächspartner gerade fischt – oder schläft. Erst als ich selbst an den Fischkaten des kleinen Dorfs auftauche, schaffe ich es, mir einen Platz an Bord zu sichern: bei Karl-Heinrich Bülk. Ich fange ihn an seinem Steg ab, der vor Fischschuppen silbrig schimmert. Der 69-Jährige kommt gerade vom Netzesetzen rein. „Ich will das erleben, was ein Fischer erlebt“, töne ich großspurig und zucke daher auch nicht mit der Wimper, als Fischer Bülk schon um halb fünf losfahren will: „Dat wird jetzt schon so früh hell und dann fressen die Kormorane die ganzen Heringe aus den Netzen.“ Ja, die Konkurrenz.

Als ich am nächsten Morgen gegen vier Uhr nachts zu Bülk aufbreche, brennt noch in keinem der Häuser Licht. Durch das kleine Fischerdorf Gothmund führt nur eine Straße – und die ist ein Weg: der Fischerweg. Er hat 21 Hausnummern und verläuft parallel zum Hafenufer. Rechts des Fischerwegs stehen Fischerkaten, links Holzschuppen, an denen gelbe Fischerhosen im Wind baumeln. Der Rasen reicht bis ans Wasser und geht in kurze Holzstege über, an denen jeweils ein bis zwei Fischerboote vertäut sind.

Die alte Fischersiedlung Godmunde wurde 1502 das erste Mal erwähnt. Sie liegt versteckt hinter einem Schilfgürtel an der Trave zwischen Lübeck und Travemünde. Während Gothmund von den plündernden Truppen Napoleons unentdeckt blieb, ließ der Ostseesturm 1872 die Trave so hoch auflaufen, dass in den Stuben des 15 Kilometer landeinwärts gelegenen Dorfes das Wasser stand. Zwanzig Jahre später brannte die Hälfte der feueranfälligen Reetdachhäuser ab. Heute sind die von Feuer und Wasser geschlagenen Wunden längst verheilt – allein die westlichen Häuser zeugen noch von dem verheerenden Brand: Ihre Dächer sind nicht mehr aus Schilfrohr wie die der östlichen Häuser, zudem baute man sie diesmal näher an den Hang – aus Vorsicht vor weiteren Jahrhunderthochwassern.

Nichtsdestotrotz ist Gothmund mit seiner Lage an der Trave, den alten Fischerkaten, den gepflegt-verwilderten Gärten und den bunten Fischerbötchen ein Dorf wie aus dem Bilderbuch. Und es ist nicht nur Kulisse: Hier wird der Tag nicht von der Uhr, sondern vom Fischfang bestimmt. Zwar ist die Zahl der aktiven Fischer in den letzten Jahrzehnten von 18 auf etwa die Hälfte geschrumpft, dennoch ist Gothmund der einzige Ort an der Trave, dessen Wirtschaft immer noch vom Fischfang dominiert wird.

Das Klischee vom maulfaulen Norddeutschen

Um viertel nach vier erhellt sich das Hinterzimmer einer Fischerkate. Um halb fünf kommt Bülk den schmalen Gartenweg herunter. Er trägt eine dunkelblaue Kapitänsmütze über seinen grauen Haaren; sein Gang ist schwer. Kein Sturm würde ihn wegblasen: ein Seebär – heimisch auf Ostsee und Trave. „Ganz schön frischer Wind, näj?“, sagt er als er mich sieht. Er nimmt eine Fischerhose vom Haken. Dann steigt er über die Reling in seine blau gestrichene GOT 8. Das Fischerboot ist knapp acht Meter lang und drei Meter breit. Es hat ein weißes Steuerhäuschen, der bauchige Laderaum ist von einer festen Plane überdacht. Bülk startet den Motor und macht die Leinen los. Zum Ablegen benutzt er seinen zweiten Steuerstand achtern an Steuerbord. „Anders wär dat alleine gar nicht möchlich“, sagt der Fischer. Eigentlich ist er längst im Ruhestand, aber das hält ihn nicht davon ab, fünf Tage die Woche raus zu fahren – am Wochenende repariert er Netze.

Obwohl ich schon deutlich länger wach bin, ist er – entgegen dem Klischee vom maulfaulen Norddeutschen – deutlich gesprächiger. „Heringe lassen sich nur von März bis Mai fischen“, erklärt er mir. „Während der Laichzeit sind sie unaufmerksam.“ Im Sommer sind es vor allem Aale, Lachse und Butte, die den Trave-Fischern ins Netz gehen. Im Winter Dorsche. Wir tuckern Richtung Osten, vorbei an der Herreninsel, passieren das ehemalige Werftgelände an Backbord und fahren in die Schlutuper Wiek.

Entlang dieser Bucht verlief während der Teilung die Grenze zwischen BRD und DDR. Sie führte von der Halbinsel Priwall vis à vis Travemünde entlang des östlichen Traveufers, umrundete die halbe Schlutuper Wiek und bog dann vor dem Dorf Schlutup nach Südwesten ab. Lübeck behielt die Fischereirechte auf der gesamten Trave, denn an den Grenzen der Stadt Lübeck und den damit verbundenen Rechten, die Kaiser Friedrich Barbarossa I. 1188 festsetzte, wurde nicht gerüttelt. An Fischfang dachte das SED-Regime wohl aber ohnehin nicht. Östlich der Grenze schloss sich ab 1954 das Sperrgebiet an, das mit Stacheldraht, Minen und Selbstschussanlagen DDR-Bürger an der Republikflucht ins „Kapitalistische Ausland“ hindern sollte. Das Sperrgebiet bestand aus einem zehn Meter breiten „Todesstreifen“, dem sich der mit Stacheldraht gesicherter „Schutzstreifen“ und die mehrere Kilometer breite „Sperrzone“ anschloss.

Als Grenzlinie galt ab 1972 die mittlere Hochwasserlinie, so dass bei normalem Wasserstand ein schmaler Streifen am Ostufer zu Schleswig-Holstein gehörte und man trockenen Fußes die Küste erreichen konnte. „Die Tiere im Sperrgebiet waren so zahm, die kannten Menschen ja gar nich. Wenn wir morgens in der Schlutuper Wiek die Netze einholten, standen oft Wildschweine an Land und warteten darauf, dass wir ihnen einen Fisch zuwarfen“, erinnert sich Bülk.

Ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt schaukeln zwei rote Fahnen auf den kleinen Wellen. Bülk drosselt die Geschwindigkeit, zieht Fischerhose und Gummihandschuhe an und geht zu seinem zweiten Steuerstand. Dann greift er die Fahnenstange und holt die Leine mit dem Anker ein, an der das Netz befestigt ist. „Früher haben wir die Netze noch per Hand eingeholt. Da wusste man abends, was man morgens getan hatte!“ Heute macht das sein „Eiserner Matrose“ für ihn – eine hydraulische Winde, die die Netze über die Bordwand hievt.

Fünf Zentner Heringe im Netz

Die Mitte des geräumigen Bootes füllt sich mit fast durchsichtigem Netz aus Kunststofffäden, in dem dicht an dicht silberbäuchige Heringe zappeln. Sie japsen nach Luft, schlagen mit der Schwanzflosse auf den nassen Schiffsboden und werden von Artgenossen und weiteren Metern Netz begraben. Nach etwa zehn Minuten liegen über hundert Meter davon auf einem Haufen im Boot. Während die oberen Fische noch versuchen, sich aus der Gefangenschaft zu befreien, zuckt der Erstfang nur noch ab und zu und starrt vorwurfsvoll in die Leere. Nachdem die zweite Fahne und der zweite Anker eingeholt und am Heck verzurrt sind, legt Bülk wieder den Vorwärtsgang ein. Langsam verliert der Himmel seine Dunkelheit. Ein Netz steuert er noch an, mit fünf Zentnern Heringe ist es dann genug für heute.

Bevor Bülk in den Ruhestand ging, fuhr er noch einen Fischkutter, mit dem er bis zu 60 Zentner pro Tag aus Trave und Ostsee holte. „Da musste ich aber auch noch für meine Familie sorgen.“ Man merkt ihm seinen Stolz darüber an, dass alle drei Kinder Abitur gemacht und zwei studiert haben. Seit über 200 Jahren lebt seine Familie vom Fischen. Bülk hat es von seinem Vater gelernt. „In der Heringszeit hab ich Schularbeiten an Bord gemacht“, sagt er und lacht. Bülk lacht oft. Es ist ein warmes, gemütliches Lachen, seine kleinen Augen werden noch kleiner und es bilden sich tiefe Falten um seine Augen und seinen Mund.

Die Fischereilizenz war früher an den Grundbesitz eines Hauses in Gothmund gekoppelt. Heute kann sie vererbt oder verkauft werden. Allerdings gibt es da einige Auflagen. Wichtig sei auch, dass ein neuer Fischer zu den anderen passt, sonst versuchen die Alteingesessenen die Lizenz zu verhindern, sagt er. Etwas traurig scheint Bülk zu sein, dass keines seiner Kinder die Fischertradition fortsetzen will: „Der Jung hat sich nich mit Fisch abgegeben. Ich hätte es schon gerne gesehen. Aber der hat was aus seinem Leben gemacht, und das ist dann auch besser so. Aber seine Zwillingsschwester, wenn dat ’n Jung gewesen wär!“, sagt er und steuert auf die nächste Boje mit roter Fahne zu. „Ich möcht nix anderes sein. Ich würde dat immer wieder machen!“

Als wir zehn Minuten vor sechs Uhr in den kleinen Schutzhafen zurückkehren, ist es fast hell. Ein Nachbar von Bülk wartet schon auf dem Steg, um zu helfen. Zweiunddreißig Jahre sind sie gemeinsam auf Bülks Kutter Fischen gewesen. Aus dem Netz gefriemelt, kommen die Heringe in große Kisten, die Kisten nach Travemünde und von Travemünde nach Rügen. „Dort wird er in ’ner Fischfabrik filetiert und dann kommt er in Dosen – mit Tomate oder Champignonsauce und wat gif dat nich alles!“, sagt Bülk. „Da sind ja ’n Haufen Gräten drin. Da kommen die meisten heute gar nich mehr mit klar“.

Um sieben Uhr steht die orangene Sonne schon ein paar Handbreit über dem Schilf, aber der Wind bläst ihre Wärme weg. Durchgefroren verabschiede ich mich. Fischer Bülk packt mir noch ein paar Heringe in eine Plastiktüte. Gestern hatten sie gegen halb zehn den letzten Hering aus dem Netz gepult. „Heute wird dat ’n bisschen eher.“ Bülk wischt sich mit dem Ärmel eine Fischschuppe aus dem Gesicht, die schon seit dem ersten Netz an seiner Backe geklebt hat. „Ha, diese Schuppen sind überall, die hast du sogar im Bett!“, sagt er und lacht wieder sein tiefes, norddeutsches Großvaterlachen.

Erschienen bei merian.de (Juni 2011)