Reise

Leichtsinn ist alles, was wir haben

700 Kilometer mit dem Rad mitten im Winter. Die meisten Nächte im Zelt, erst zu zweit, dann allein. Elbe, Saale, Unstrut und der Thüringer Wald. Hinter Bamberg der Main-Donau-Kanal, dann hat Katharina Müller-Güldemeister es geschafft.

Als Jana merkt, dass ich wach bin, fantasiert sie, was auf der Elbwiese los sein könnte, auf der wir gestern im Dunkeln das Zelt aufgeschlagen haben: „Hunderte von Gänsen haben sich versammelt und warten darauf, dass wir auf die Bühne kommen. Wir haben nichts eingeübt, aber wir können unsere Fans doch nicht hängen lassen.“ Ich muss lachen. Als ich den Reißverschluss aufmache, sehe ich die Gänse. Am anderen Ende der Wiese zupfen sie schnatternd Gras und schauen uns mit dem Hintern an. Egal, meine Mitbewohnerin und ich fühlen uns trotzdem wie Stars. Gestern, am Nikolaustag, sind wir 100 Kilometer von Potsdam nach Elbe-Parey gerauscht. Den Wind im Rücken, das Abenteuer im Gesicht.

Jana will mich drei Tage auf meiner Radtour nach Bayern begleiten. Dort wohnt meine Freundin Nina, die vor einem Jahr ein Kind bekommen hat. Als das Kennenlernen wegen der steigenden Corona-Zahlen ausfallen musste, kam mir die Idee, mich eine Woche auf dem Rad in Quarantäne zu begeben und sie zu besuchen. Zuhause würde ich mich eingesperrt fühlen, aber eine Woche mit Zelt durch den Winter? Kein Problem, dachte ich. Schließlich war ich vor vier Jahren auch schon im Dezember durch den Iran gefahren, das allerdings zu zweit. Statt an die Herausforderungen des Alleinseins denke ich nur an die Temperaturen. Je kälter es wurde, desto großkotziger fand ich den Plan. Einen Rückzieher wollte ich trotzdem nicht machen.

Zwei Stunden nach dem Aufwachen fahren Jana und ich den Deich entlang, rechts von uns fließt die Elbe, ab und zu sehen wir Kühe. Es fängt an zu nieseln und der Wetterbericht behält recht: starker Wind von Südwest, also schräg bis direkt von vorn. Wir wechseln uns im Windschatten ab und sind trotzdem nur halb so schnell wie am Tag zuvor. Nach drei Stunden spüre ich erste Zermürbungserscheinungen. Auch Jana ist auffallend still.

Als wir drüber reden, wird es besser und nach einer Pizza in Magdeburg ist alles wieder gut. Nach etwa 65 Tageskilometern finden wir bei Schönebeck einen Strand, an dem Jana mit Hilfe von Spiritus ein Feuer anzündet. Ob ich mir die Mühe mit dem feuchten Holz gemacht hätte? Für mich allein vermutlich nicht. Wie schön, dass sie da ist. Gerade an einem Tag wie diesem.

Der nächste Morgen gibt sich alle Mühe. Der Wind hat sich gelegt, die Sonne geht auf und über der Elbe liegt ein zarter Nebel. Bei Kaffee und Beerenmüsli kommen wir aufs Reisen zu sprechen. Jana ist, genauso wie ich, schon oft allein verreist. Einfach, weil es niemanden gab, mit dem es wirklich passte. Dass wir jetzt zusammen fahren, erstaunt mich immer noch. Es war ihre Idee, obwohl sie nie wildgezeltet hatte und nur zwei Sommerschlafsäcke und ein Rad mit kaputter Gangschaltung besitzt.

Doch unsere Einstellung passt zusammen. Vielleicht liegt es daran, dass wir am selben Tag im selben Jahr geboren wurden. Sie eine Stunde später als ich und rund 280 Kilometer südöstlich von mir. 1983 war das. Nur auf das Ziel unserer nächsten Radreise können wir uns noch nicht einigen. Sie möchte auf den Balkan, ich ins Baltikum.

Nun aber erstmal Richtung Südharz. Als wir von der Saale wegfahren, beginnen die weitläufigen Hügel: Acker bis zum Horizont und ein paar wenige Bäume. Auf einem Feldweg hält ein Pick-up neben Jana, die ihr Fahrrad hinter mir schiebt. Ihr dritter Gang ist nichts für diese Steigung. „Wir wollen nach Eisleben“, höre ich sie sagen, „meine Freundin fährt weiter nach Bayern.“ Als sie herankommen, fragt der Mann, der etwa so alt sein dürfte wie wir, wo wir schlafen werden. Dass wir zu dieser Jahreszeit zelten, kann er kaum glauben. „Ich dachte immer, Landwirte wären hart, aber Frauen sind noch viel härter“, sagt er. Wir lachen. Endlich merkt es mal einer. Als er weg ist, sagt Jana: „Vielleicht haben wir ihn inspiriert, mit seinem Sohn im Garten zu zelten.“ Eine schöne Vorstellung.

Wir fahren an Streuobstwiesen vorbei, die sich als Nachtlager anbieten. Aber es fährt sich gerade so schön. Später, die Kälte zieht langsam durch die Schuhe, lädt uns die Landschaft nicht mehr so offensichtlich zu sich ein. Gepflügte Äcker, Bundesstraßen und Agrarindustrie prägen die Gegend. Als wir auch hinter der Ortschaft Polleben nichts finden, kehren wir um. Ich hatte eine Sackgasse gesehen.

Am Ende ist eine Rasenfläche wie zum Campen gemacht. Eine junge Frau parkt vor einem Haus und ich frage, ob es okay wäre. „Das kann ich nicht entscheiden“, sagt sie. Als ich erkläre, dass wir sonst nichts gefunden hätten, fragt sie: „Wie lange wollen Sie denn bleiben?“ – „Morgen früh sind wir wieder weg“, antworte ich und muss über die Frage später noch ein paar Mal lachen. Hatte sie gedacht, dass wir zwei Wochen Urlaub machen wollen? „Also mich stört‘s nicht“, sagt sie nach kurzer Pause.

Wir kochen Zwiebelsuppe und essen Käsebrote, danach verschwinden wir im Schlafsack. Das Gras ist gefroren, ohne Feuer hält uns draußen nichts. Nachts regnet es, ein paar Tropfen fallen in mein Gesicht. Ich hatte vergessen, das Zelt noch zu imprägnieren.

Kurz nach dem Aufwachen – wie werde ich das morgen früh vermissen – fängt Jana wieder an zu fantasieren. „Alle Pollebener sind gekommen, um uns frisch gebrühten Kaffee, Brötchen und selbstgemachte Marmelade zu bringen“, erzählt sie. In Wirklichkeit hat jemand eine Nebelbombe geworfen, kein Mensch mit Kaffee zu sehen. Ich freue mich trotzdem. Was für ein verrückter Schlafplatz!

Als wir um halb zehn aufbrechen, ist es immer noch neblig. Ich mache ein Foto von Jana, die in wenigen Stunden den Zug nach Hause nehmen wird. Bis meine Kamera verstaut ist, hat der Nebel sie auch schon verschluckt. Ein paar hundert Meter weiter spuckt er dafür zwei orangefarbene Wesen am Straßenrand aus, die Müll sammeln. Als ich Jana einhole, sagt sie: „Wir sind auf Pluto gelandet! Die beiden räumen den Planeten auf.“ Ich mag ihren Blick auf die Welt und freue mich schon darauf, mich mit ihr an diese Reise zu erinnern: „Weißt du noch, als wir auf Pluto gelandet sind?“

Nach ein paar Kilometern erreichen wir Lutherstadt Eisleben. Jana kauft eine Fahrkarte, ich hole den letzten gemeinsamen Kaffee. Es zieht ein wenig, als mein Zwilling ihr Rad in den Zug hebt und mir zuwinkt. Aber ich bin auch gespannt auf die nächsten fünf Tage mit mir selbst.

Bald bin ich auf einer Landstraße, die von leeren Gin- und Rotweinflaschen gesäumt ist. Ich ziehe die neongelbe Warnweste an, die Jana mir am Bahnhof in die Hand gedrückt hat, und entscheide mich für den nächstbesten Feldweg, auch wenn er ein Umweg ist. Nun habe ich wieder Sinn für den Nebel, der die Felder verschwinden lässt, bevor ich den Horizont erahne. Immer wieder halte ich an, um Fotos zu machen.

In einer Kurve sagt mein Smartphone, ich soll geradeaus in ein Gebüsch fahren. „Vergiss es, Google!“, denke ich und fahre in eine falsche Richtung weiter. Nun meldet sich eine andere Stimme in meinem Kopf: „Warum fährst du auch nach Google Maps, obwohl die App für Radfahrer scheiße ist?“ Die Antwort lautet, dass ich keinen Speicherplatz mehr für eine andere habe, aber diese gefällt mir besser: „Weniger Technik, mehr Abenteuer.“ Schmissig, Katharina, schmissig.

Bald geht es auf und ab durch einen Wald. Wegen tiefer Furchen komme ich nur langsam voran, habe aber trotzdem gute Laune. So viel im Kopf, worüber ich Lust habe nachzudenken. Während meine Gedanken noch mit mir davongaloppieren, führt mich der Weg in einen Park und plötzlich stehe ich vor dem Schloss Beyernaumburg, das auch als Filmkulisse dienen könnte. Ein Hund bellt, kein Mensch zu sehen. Stattdessen treten ein paar Schafe aus einer Hütte und betrachten mich wie eine Attraktion. Manchmal sind Umwege einfach das Beste.

Von hier geht es auf asphaltierten Nebenstraßen weiter. Ein bisschen vorankommen muss ich auch. 400 Kilometer und 2000 Höhenmeter liegen laut Google noch vor mir, wenn ich über Erfurt, Hildburghausen und Bamberg fahre. Meiner Erfahrung nach sind es zehn bis zwanzig Prozent mehr als Google sagt.

Die Landschaft ist weit und leer. Eine Gegend, wie dafür gemacht, um Gerhard Gundermann zu hören. „Hier bin ich geborn, wo die Kühe mager sind wie das Glück“, plärrt es aus meinem Smartphone. „Hier hab ich meine Liebe verlorn und hier krieg ich sie wieder zurück“, schmettere ich mit, verfehle jedoch jeden zehnten Ton. Das hätte ich Jana nicht angetan.

Ich höre alle meine Lieblingslieder und lasse mich von Gundermanns Melancholie mitreißen. Ich mag dieses Gefühl, will nur aufpassen, dass ich ihm nicht zu lange folge. Meine Beziehung hat gerade eine Rolle rückwärts gemacht und ich möchte nicht schwermütig werden. Prophylaktisch wechsle ich zu einer leichteren Playlist.

Als es dunkelt, erreiche ich einen Radweg entlang der Unstrut, die ich hören, aber nicht sehen kann. Trotz des einsetzenden Regens rausche ich weiter durch die Nacht, statt Regenzeug überzustreifen. Als meine Hose an den Beinen klebt und sich meine Socken feucht anfühlen, sagt eine Stimme: „Bisschen dumm.“ – „Ja“, sagt eine andere, „aber musste sein.“

Ich kaufe Chips und Glühwein und radle bis hinter Sömmerda, wo ich in die Aue abbiege. Eigentlich müsste ich jemanden fragen, ob ich mein Zelt aufstellen darf. Aber da ist niemand, außerdem möchte ich als Frau allein auch keine Aufmerksamkeit auf mich lenken. Ich hoffe einfach, dass es für den Bienenstockbesitzer okay ist, dass ich vor seinem Tor campiere. Müll lasse ich sowieso nie da, selbst Klopapier nehme ich wieder mit.

Entgegen allen Warnungen mache ich den Glühwein im Zelt heiß. Ich habe schließlich sturmfrei und da kann man auch mal was Unvernünftiges tun. Und weil es so gut geklappt hat, koche ich am nächsten Morgen auch den Kaffee im Zelt, während ich Tagebuch schreibe. Es gibt viel zu erzählen, wenn man kein Gegenüber hat. Von Freunden und Familie habe ich mich für diese Woche abgemeldet.

Von der Unstrut verabschiede ich mich bald und folge einer Einfallstraße nach Erfurt. Der Höhenflug von gestern ist vorbei. Die Autos nerven, das Gewerbegebiet zieht sich, meine Gedanken sehen über fast zwanzig Kilometer so aus: Erfurt, wie kann eine schöne Stadt wie Du außen so hässlich sein? Als Antwort bekomme ich eine Ausrede: Das ist doch bei vielen Städten so.

Hinter Erfurt geht es einige Kilometer an der schönen Gera entlang, die mir flott und klar entgegenströmt. Bei Arnstadt windet sich das Jonastal den Thüringer Wald hinauf. Die Hänge sind steil und teilweise liegt Schnee. Zum ersten Mal fühlt sich die Landschaft richtig weit weg an.

Hinter der Ortschaft Crawinkel geht es immer tiefer in den Wald hinein. Links und rechts stehen hohe Fichten, die das letzte Licht des Tages schlucken, nur der Schnee sorgt für etwas Helligkeit. In der Kurve steht ein SUV mit laufendem Motor, ein Mann sitzt am Steuer. Gehört er zu der Frau mit dem Hund, der ich gerade begegnet bin? Bei jeder Kurve hoffe ich, dass es nach ihr bergab geht. Aber es geht immer weiter bergauf.

Nach einer halben Stunde steht da schon wieder dieser SUV mit laufendem Motor. Wenn ich zu zweit unterwegs wäre, würde ich mich darüber nur wundern. Doch allein auf einer wenig befahrenen Landstraße wird mir plötzlich meine Verletzlichkeit bewusst. Je länger ich mich frage, warum der Mann dort parkt, desto mehr wirkt der Wald wie eine Wand aus Bäumen. Doch bald habe ich noch ein Problem.

Die Straße, auf der ich fahre, mündet in eine andere, auf der gleich mehrere Sattelschlepper an mir vorbeiziehen. Da ich nicht als Holzkreuz am Straßenrand enden, aber auch nicht zurück nach Crawinkel will, schiebe ich mein Rad durch den Schnee in die Fichten. Die Spuren, die ich dabei hinterlasse, machen kein gutes Gefühl und das ärgert mich. Ich möchte auf solche Reisen nicht verzichten, nur weil ich eine Frau bin.

Im Zelt schreibe ich Tagebuch, mache mir Glühwein mit Orangensaft heiß und versuche nicht mehr dran zu denken. Einschlafen klappt gut, allerdings wache ich um halb drei auf und muss aufs Klo. Draußen ist alles ruhig. Kein Ast knackt. Ich brauche anderthalb Stunden, um wieder einzuschlafen. Meine Füße sind kalt, obwohl ich drei Paar Socken trage. Minus vier Grad sagt mein Handy.

Das Zelt ist steif, als ich es zusammenfalte, zwei Zeltstangen sind so vereist, dass ich sie nicht auseinander bekomme. Immerhin wirkt der Wald am Morgen freundlicher. Ich sehe einen Pilz auf einem Baumstumpf stehen und freue mich über ihn. So richtig wohl fühle ich mich aber erst, als ich mein Rad auf die Straße schiebe.

Es sind deutlich weniger Autos unterwegs, vor allem nicht so viele Lastwagen. Es tut gut, mich die kurvige Landstraße hochzuarbeiten, wobei auch meine Finger wieder warm werden, die beim Zelteinpacken vor Kälte gebrannt haben. Die Nacht fällt immer mehr von mir ab. Als nächstes meldet sich mein Ego. „Hey, mach doch ein Interview mit Dir selbst!“, sagt es und haut mir auf die Schulter. Hervorragende Idee.

Frau Müller-Güldemeister, ist so eine Reise im Winter nicht ein bisschen verrückt?, fällt mir als erstes ein.

„Eigentlich nur, weil es kaum jemand macht. Die Ausrüstung ist ja heutzutage so gut, und beim Skifahren zieht man sich schließlich auch warm an“, antworte ich.

Mehr mutig oder mehr leichtsinnig?, hake ich nach. Auch auf solche Fragen bin ich vorbereitet.

„Ich denke, es ist nicht gefährlicher, als im Winter durch Berlin zu fahren oder Snowboarden zu lernen“, sage ich, die ich vor 15 Jahren als Fahrradkurierin gearbeitet und die sich vor zwei Jahren den Ellenbogen auf der Piste gebrochen hatte.

Das Interview macht Spaß und am Ende finde ich mich ziemlich cool. Als ich durch Oberhof komme, wo ich an Sprungschanzen und Ski-Unterkünften vorbei fahre, kommt mir die Radtour allerdings doch etwas absurd vor. Aber niemand sagt etwas. Nicht mal die Frau, die ich bitte, ein Bild von mir neben einem Rennbob und einer Eiskristallskulptur zu machen. Vielleicht denkt sie: Bekloppte soll man nicht aufhalten.

Bald erreiche ich den höchsten Punkt des Thüringer Waldes mit 1001 Metern. Beschwingt fahre ich weiter, und muss für ein paar Kilometer mehr bremsen als treten. Den schwierigsten Teil scheine ich geschafft zu haben.

Am Ende des Ortes Frauenwald ist eine Straßensperre angekündigt. Vielleicht machen die ein Stück Asphalt neu. Tatsächlich ist die Straße wegen einer Jagd gesperrt. Mit meiner neongelben Warnweste traue ich mich trotzdem weiter, obwohl die Straße nicht gestreut ist und gefrorener Schnee darauf liegt. Ist ja nicht das erste Mal, rede ich mir zu und singe leise: „Grün, grün, grün sind alle meine Kleider, grün, grün, grün ist alles, was ich hab. Darum lieb ich alles, was so grün ist, weil mein Schatz ein Jäger ist.“

Nach vier Kilometern wird der Wald lichter und die Straße schneefrei. Ich trete kräftiger und merke gleich, dass das eine Dummheit war. Mein Hinterrad rutscht weg und ich falle seitlich auf den Rücken. Au-a. Ich rapple mich auf und schiebe weiter. Fast wäre ich gleich nochmal ausgerutscht. Die Straße, die aussieht, als wäre sie nass, ist spiegelglatt. Als ich wieder auf eine Landstraße treffe, die gestreut ist, traue ich meinem Rad nicht mehr, obwohl es nichts dafür kann.

Kilometer für Kilometer kommt die Sicherheit zurück, aber der Sturz hat mir den Schwung genommen. Nach knapp 70 Tageskilometern beschließe ich, in Bad Rodach in Bayern in eine Pension zu gehen. Da ich eine Bestätigung von der Redaktion habe, dass ich über diese Reise schreibe, darf ich trotz Lockdown beherbergt werden. Nun muss ich nur noch eine Unterkunft finden, die aufhat, und lande nach dem vierten Versuch beim Kurhotel. Die Rezeptionistin mustert mich, als ich mit Flicken auf der Regenhose und zerzausten Haaren nach einem Zimmer frage. Sie hätte noch eins für 98 Euro. Ich schlucke und kann sie ein wenig runterhandeln.

Als ich mein Gepäck hole, staunt sie über meine vielen Taschen, und dass ich bisher gezeltet habe. „Mich wundert ja, dass Sie Joey Kelly nicht dabei haben“, sagt sie. „Die Tour wäre zu hart für ihn gewesen“, antworte ich und wir lachen. Wie gut das tut. Lachen macht man alleine dann doch nicht so oft. Als sie mir den Schlüssel gibt, sagt sie: „Ihre Geschichte hat mich so gerührt, ich geb Ihnen das Zimmer für 70 Euro mit Frühstück.“

Am nächsten Morgen breche ich frohgemut auf. 120 Kilometer will ich heute schaffen, damit es am letzten Tag nicht mehr als 100 Kilometer und 1000 Höhenmeter sind. Ich komme an einem Fachwerkhof vorbei, wo zwei lustige Schafe mit Korkenzieherlocken grasen. Walisisches Schwarzkopf, erfahre ich, als ich den Mann dazu frage. Seit er die hat, habe der Habicht keine Hühner mehr geholt. Es ist nett, mit ihm zu plaudern. Zum Abschied fragt er, ob ich ein Ei mitnehmen möchte – ja gerne. Doch die Hühner haben noch nicht gelegt – macht nichts. Am schönsten finde ich sowieso die Geste. Und je länger ich allein unterwegs bin, desto mehr freue ich mich über solche Begegnungen. Genauso wie Ideen oder eine schöne Landschaft füttern sie meinen Kopf und lenken ab von Anstrengung und vorübergehender Langeweile, die ganz natürlich sind auf so einer Reise.

Am Main-Donau-Kanal hinter Bamberg kommt trotzdem alles zusammen: Zu den Mühen der vergangenen Tage gesellen sich ein leergedachter Kopf, ein spannungsarmer Weg, Nieselregen und Gegenwind. Weil ich außerdem die Sperrung eines Radweges ignoriere, lande ich ein paar Kilometer weiter vor einem unüberwindbaren Bauzaun. Ich fluche, was es ein bisschen besser macht, dann nehme ich die Taschen vom Rad, um es über eine Leitplanke zu heben. Falls jetzt jemand kommt und was Doofes zu mir sagt, werde ich ihn anschreien müssen. Ich bin müde und ungerecht wie ein kleines Kind. Gerade ist von meiner schönen Schnapsidee irgendwie nur noch der Kater übrig.

Ein wenig beruhigt mich, dass ich solche Gefühle im Endspurt kenne. Auch die letzte Etappe nach Teheran war anstrengend gewesen. Wir wollten unbedingt an Heiligabend ankommen, doch ständig bremste uns Neuschnee, Glatteis oder eine Serie von Platten aus. Immer wenn einer sagte: „Das schaffen wir nie“, sagte der andere: „Komm, wir versuchen es trotzdem.“ Bei dieser Reise muss ich alle Motivation aus mir selbst herausholen. So viele Stimmen im Kopf, die miteinander ringen. Wenigstens sagt die lauteste von ihnen nicht mehr, dass ich im Regen zelten soll. Ein Hotel in Fürth sei auch okay.

Am nächsten Morgen bin ich um kurz nach acht auf der Straße. Das Wetter heute: penetranter Niesel. Nach 20 Kilometern mache ich meine Playlist an, melancholische Lieder überspringe ich. Bei „Linda“ von Gerhard Gundermann mache ich eine Ausnahme.

„Du bist in mein Herz gefallen,
wie in ein verlassenes Haus.
Hast die Türen und Fenster weit aufgerissen.
Das Licht kann rein und raus.
Ich hatte doch schon meinen Frieden,
aber du bist so ne laute Braut.
Du hast mich wieder ausgeschnitten,
aus meiner dicken Haut.“

Schon bei der zweiten Zeile muss ich heulen. Das Lied ist seiner Tochter gewidmet, die geboren wurde, nachdem seine große Liebe sich doch noch für ihn entschieden hatte. Der Text, so oft ich ihn schon gehört habe, heute haut er mich um.

Als wieder ein Anstieg ansteht, höre ich „Tour de France“ von Kraftwerk. Ich trete im Rhythmus, spüre, wie meine Oberschenkel brennen, doch zu diesem Song fühlt sich das gut an. Als ich einen Jogger überhole, muss er über mich lachen. Darf er. Ich muss auch lachen.

Um halb fünf am achten Tag habe ich es geschafft. Als ich bei meiner Freundin klingele, macht mir eine strahlende Mutter die Tür auf. Es ist schön, sie so zu sehen. Auch in ihren Sohn verliebe ich mich schnell. Einmal beobachte ich, wie er sich an der Kommode hochzieht und ein Aufstellbuch umblättert, das durch Kombinationen von Satzteilen hunderte von Thesen produzieren kann. „Leichtsinn ist erwiesenermaßen alles, was wir haben“, steht da nun. Wie weise der Kleine schon ist.