Leben

Liebeserklärung an einen Garten

Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen. Entgehen tut es einem trotzdem. Plädoyer für eine Kindheit im Garten.

Ich weiß nicht mehr genau, warum meine Schwester und ich zwei Nägel in die große Birke schlugen, die hinten in unserem Garten stand. Vielleicht, weil unsere Mutter behauptete, Bäume wären Lebewesen, die fühlen wie Mensch und Tier. Wir glaubten ihr nicht. Die Birke gab keinen Mucks von sich. Ein ungutes Gefühl beschlich uns trotzdem. Am nächsten Tag besuchten wir sie, um zu sehen, wie es ihr ging. Eine rötliche Flüssigkeit war aus der Rinde getreten und den Stamm heruntergelaufen. Der Baum blutete! Wir rannten ins Haus, um Zange und Pflaster zu holen. Die Tage drauf wechselten wir täglich den Verband.

Ich bin am Stadtrand von Hamburg aufgewachsen, in einem Wohngebiet mit Häuserfassaden aus Waschbeton, Kacheln und Glasbausteinen. Heute würde ich dort eingehen, damals bin ich aufgeblüht – wegen unseres Gartens. Er war groß, vor allem aber war er wild und hatte immer für mich Zeit.  Mit seiner Hilfe schauten Jungs zu mir auf, ich lernte Weisheiten fürs Leben und konnte verbotene Dinge ausprobieren.

Meine Eltern sorgten sich nicht. Zwar konnten Sie mich im Gestrüpp meist nicht sehen, aber der Garten war für sie ein Schutzraum – frei von gefährlichen Autos und bösen Männern. Ich spielte, bis es dunkel war oder meine Mutter „Abendbrot“ in den Garten rief. Nach dem Essen ging ich wieder raus, spielen.

Im Garten gab es immer etwas zu tun. Ich sammelte Kiefernzapfen und stellte mir vor, es seien Hühnereier. Ich verkaufte ich sie an unsere Nachbarin und meine Mutter. Ein Eimer brachte eine Spielgeld-Mark, bar auf die Kralle. Als ich ein bisschen größer war, kletterte ich auf Bäume. Manchmal saß ich lange auf dem untersten Ast und wusste nicht, wie ich zurück auf die Erde kommen sollte, die plötzlich so weit weg schien. Wenn ich meine Mutter dann rief, sagte sie: „Wer alleine rauf kommt, kommt auch alleine runter.“

Auf der linken Seite in unserem Garten gab es einen Swimmingpool. Das Wasser war braun, weil meine Eltern ihn nicht chlorten. Frösche legten ihren Laich dort ab. Jedes Frühjahr beobachtete ich, wie aus den glibberigen durchsichtigen Eiern mit dem schwarzen Punkt drin Kaulquappen schlüpften, denen erst Hinterbeine und dann Vorderbeine wuchsen. Als wir im Kindergarten Frösche durchnahmen, wusste ich, was die anderen Kinder noch nicht wussten. Für ein paar Tage wurde ich bewundert. Drei Jungs kamen sogar zu mir nach Hause, weil sie sehen wollten, wie ich einen Frosch küsse.

Ich beneidete Frösche, weil niemand ihnen sagte, sie müssten aus dem Wasser kommen, um sich aufzuwärmen. Nie liefen ihre Lippen blau an, so wie bei mir. Aber noch toller als Frösche, fand ich Wasserläufer. Ich konnte ihnen ewig zusehen, wie sie mühelos übers Wasser gleiteten. Es war Herbst, als ich beschloss, dass ich lange genug kein Wasserläufer gewesen war. Ich stieg mit Schuhen – fürs Barfußlaufen war es zu kalt – auf die Swimmingpooloberfläche. Das eisige Wasser verschlang mich samt Jeans und Parker. Der Wille allein reicht nicht, erkannte ich. Nur mit Mühe zog ich mich in meinen nassen Sachen die rettende Leiter hinauf.

Auch als Teenager liebte ich den Garten. Mit meiner Schulfreundin verabredete ich mich dreimal pro Woche, um Lagerfeuer zu machen. Das durften meine Eltern natürlich nicht wissen. Damit unsere Sachen nicht nach Rauch rochen, legten wir uns eine Feuermontur zu. Wir kochten Tee in einem Kessel, unterhielten uns über Jungs. Meine Freundin schlug vor, Gras zu rauchen. „Das machen Menschen so, die schon fast erwachsen sind“, sagte sie. „Das ist cool und außerdem muss man davon lachen.“ Gras war genug da. Es stand oft kniehoch, bevor es gemäht wurde. Was am Gras Rauchen allerdings so toll sein soll, konnten wir nicht nachvollziehen. Wir bekamen Hustenanfälle und lachten auch nicht mehr als sonst. Nach zwei Versuchen gaben wir es wieder auf.

Als ich zwölf war, zogen wir in eine andere Stadt. In unserem neuen Garten blieb nichts geheim. Er war klein und aufgeräumt; meine Eltern konnten alles sehen. Ich freundete mich nie besonders mit ihm an. Ohnehin wäre er mir bald zu eng geworden. Mich lockte die Natur außerhalb des Zauns und sie lockt mich noch heute. Ohne den Garten meiner Kindheit würde ich mich dort nicht so zuhause fühlen.

Erschienen im Go-Magazin (2014)