Leben

Vom Container zum kalten Ende

Katharina Müller-Güldemeister liebt das Geräusch von zerschellendem Glas. Aber was wird eigentlich daraus nachdem es im Containerbauch angekommen ist?

Die einzige Art Aufräumen, die mir als Kind Spaß machte, war: Altglas wegbringen. Mit Schwung warf ich die Flaschen und Gläser hinein. Weiß zu Weiß, Grün zu Grün, Braun zu Braun. Ich mochte das Geräusch, wenn sie zerschellten. Und dann war da noch das Gefühl, etwas Gutes zu tun. Zweifelsfrei war das Glas ein gutes Material, denn aus Glas wurde wieder Glas. Anders als das sündige Plastik, das damals noch im Restmüll landete, verbrannt wurde, und die Luft verpestete.

Mit den Jahren habe ich mir eine hübsche kleine Altglaslogik zurechtgelegt: Alles, was nicht eindeutig grün oder weiß ist, werfe ich zu braun, weil im Tuschkasten auch immer Braun herauskommt, wenn man die Farben mischt. Ich spüle Flaschen nicht aus. Das Altglas wird bestimmt bei der Aufbereitung gewaschen, schon wegen der Etiketten.

Deckel und Korken drehe ich ab. Ratlos machen mich aber Alu-Manschetten am Flaschenhals und Drahtringe, die bei Flaschen mit Schraubverschluss dranbleiben. Macht die einer ab, bevor das Glas eingeschmolzen wird? Und wer trennt die falsch eingeworfenen Flaschen? Ich habe keine Ahnung, was eigentlich mit dem Altglas passiert. Zumindest bis jetzt. Ich habe beschlossen, ein Glas zu begleiten.

Frankfurt, Bahnhofsviertel

Es beginnt mit Enzo Priore im Frankfurter Bahnhofsviertel. Er trägt Troyer-Pulli und orangefarbene Latzhose. 59 Jahre ist er alt, die ersten 19 Jahre hat er in Italien verbracht, die letzten 40 in Deutschland. In Frankfurt leert er Altglascontainer für den Entsorgungskonzern Remondis. Altglas, das sei ein wertvoller Rohstoff, sagt er. Weil es ohne Qualitätsverlust wiederverwertet werden kann – unendlich oft. Nicht wie Plastik, das nach einem ersten Leben als PET-Flasche etwa ein Polyester-Pullover wird und als Parkbank oder Mülleimer endet. Damit Altglas aber seine Qualität behält, muss es richtig getrennt werden. „Manche Leute denken, es kommt eh alles zusammen, aber das stimmt nicht“, sagt Priore. In seinem Lastwagen gibt es für jede Sorte eine Kammer. Weißglas und Braunglas sind die „Primaklasse“, sagt Priore mit rollendem „r“. Weiß ist am wertvollsten und am schwierigsten farbrein zu halten. Braunglas schützt am besten vor UV-Licht. Weil Grünglas am farbunempfindlichsten ist, gehören blaues und rotes Glas dort hinein.

Priore parkt den Lastwagen neben zwei Containern im Bahnhofsviertel, klettert zum Steuerstand des Krans und manövriert den Ausleger über den Container. Dann lässt er drei Greifhaken herab, mit denen er die Metallösen zu fassen kriegen muss, die oben am Sammelbehälter befestigt sind. Es ist ein bisschen wie das Kinderspiel „Entenangeln“. Doch Priore ist geübt. Seit 17 Jahren leert er Glascontainer, etwa 60 Stück am Tag. Ein vorbeispazierender Tourist aus dem Iran nimmt das Spektakel mit seiner Kamera auf. „Bei uns gibt es so etwas nicht“, sagt er. Dabei kann ein Fünftel bis ein Viertel der Schmelzenergie eingespart werden, wenn Glas recycelt wird. Im Schnitt besteht das in Deutschland hergestellte Glas zu rund 60 Prozent aus Altscherben. Der Iraner ist nicht der erste, der Priore bei seiner Arbeit fotografiert. „Auf der ganzen Welt gibt es Bilder von mir“, sagt Priore und lächelt ein wenig stolz. Dann lässt er den Container über den Lastwagen schweben und öffnet die Klappe zum weißen Glas.

Alle anderthalb Tage bringt er seine Ladung zum Umschlagplatz in den Osthafen. Rückwärts fährt er den 16 Meter langen Lastwagen vor die Braunglaskammer, öffnet die Türen und kippt den Ladebehälter. Die aufeinanderschlagenden Flaschen hören sich an, als ob Kristallkronleuchter im Wind klimperten. Anschließend kommt die grüne, dann die weiße Kammer dran. 19 Tonnen Altglas lädt er heute ab. Die Scherben gehören den dualen Systemen. Sie werden von Firmen, die Glasflaschen in Umlauf bringen, dafür bezahlt, sie nach Gebrauch zu sammeln und aufbereiten zu lassen.

Frankfurt, Umschlagplatz

Am nächsten Morgen lenkt Markus Nickol – 47 Jahre, Oberfranke – seinen Lastwagen auf den Umschlagplatz. Er soll für seine Firma 24 Tonnen Grünglas abholen. Es knirscht, als der Radlader mit seinen massiven Gummireifen über die Scherben fährt, um Nickols Lastwagen zu befüllen. Die Schaufel des Radladers ist so groß, dass sie auch ein Auto wegräumen könnte. Als Nickol um kurz vor acht vom Umschlagplatz rollt, läuft gerade der zweite Kaffee durch die kleine Filtermaschine auf dem Armaturenbrett. Er greift die Kaffeesahne aus dem Kühlschrank hinter seinem Sitz und holt noch eine Tasse aus dem Fach über seinem Kopf. „Ich bin der Markus. Und Du folgst also dem Glas.“ Nickol lacht. Wir fahren los.

Nach ein paar Kilometern Autobahn biegen wir auf die Landstraße ab. Wenn Nickol nicht gerade bei McDonalds essen oder auf einer Raststätte vernünftig duschen will, fährt er gerne Landstraße. Es dauert zwar länger, aber so sieht er mehr vom Land. Außerdem spart es dem Chef Mautgebühren.

Den LKW-Führerschein hat ihm das Arbeitsamt bezahlt. Stellen gab es genug. „Die Alten hören auf, die Jungen wollen es nicht mehr machen.“ Nickol hat Fleischer gelernt, arbeitete dann aber selbstständig als Garten- und Landschaftsbauer. Er mochte es, am Abend sein Tagwerk bestaunen zu können. In der Wirtschaftskrise musste er Privatinsolvenz anmelden. „Wenn kein Geld mehr da ist, fangen die Streitereien an.“ Kurz darauf kam die Scheidung. Sohn und Tochter besuchen ihn alle zwei Wochen und in den Ferien.

Nickol fährt gerne weg und kommt gerne wieder. Nicht nur, weil er seine Heimat liebt, sondern auch, weil seit fünf Jahren wieder jemand auf ihn wartet: Erika. Ein Foto seiner Lebensgefährtin hängt über der Beifahrertür. Erst hatte er es aufs Armaturenbrett gestellt, doch da ist es immer wieder umgefallen.

In vielen Schwüngen führt die Landstraße durch die Rhön. An Wiesen, Wald und Fischteichen vorbei. „Forellen kannst du auch in der Spülmaschine machen“, fällt Nickol dazu ein. „Musst du nur acht bis zehn Mal in Alufolie wickeln. Wenn die Maschine durchgelaufen ist, ist auch die Forelle fertig.“ Er hat nie aufgehört, „Sendung mit der Maus“ zu schauen.

Steinbach am Wald, Wiegand-Glas

Nach 263 Kilometern und gut vier Stunden Fahrt kommen wir in Steinbach am Wald in Oberfranken an. Die Fabrik liegt direkt an den Bahngleisen. Flaschen ins Ausland und nach Übersee werden über die Schiene transportiert. Hinter den Hallen, in denen Scherben gereinigt, sortiert und eingeschmolzen werden, lagern Berge von Altglas. Nickol fährt rückwärts in die überdachte Bucht mit Grünglas. Doch seine Fracht besteht keineswegs nur aus grünen Scherben: Auch Plastiktüten, Hausmüll, kaputte Regenschirme und eine Krücke rutschen herunter, als er die Ladefläche kippt. Manchmal findet Nickol auch Portemonnaies, Autokennzeichen, Schusswaffen und Munition. Die bringt er zur Polizei.

Aufbereitungshalle

Im hinteren Teil der Kammer für Grünglas verschwinden die Scherben beinahe unmerklich im Untergrund. Auf Förderbändern werden sie in die Aufbereitungshallen gebracht, wo Mitarbeiter den gröbsten Unrat aussortieren. Gut zehn Prozent der angekauften Altscherben sind Müll. In der Aufbereitungshalle gibt es sieben Ebenen, die mit steilen Treppen verbunden sind. Meist fahren die Scherben in verzweigten Tunnelsystemen durch die Anlage. Wo sie zu Tage treten, hängt der Geruch von abgestandenem Rotwein, Eukalyptus oder süßlichem Parfüm in der Luft.

Bernhard Prechtl, Abteilungsleiter der Altglasaufbereitung, erklärt, was man nicht sehen kann. Er ist 35 Jahre alt und spricht „t“ wie „d“ und „k“ wie „g“. Noch nie hat er woanders gelebt als in Oberfranken. Im Frankenwald hat er eine Ausbildung zum Mechatroniker gemacht und in Bayreuth ein Diplom in Maschinenbau draufgesetzt. Zuerst werden die Scherben getrocknet, sagt er. Dadurch lösen sich die Etiketten ab, die durch Regen, Getränkereste und scharfkantiges Glas angegriffen sind. Unterschiedlich feine Gitter sortieren das Material nach Größe. Flache Scherben fallen durch, große Scherben werden zerkleinert, dabei brechen auch die Flaschenmündungen aus den Metallverschlüssen. Auf dem Förderband fahren sie unter einer starken Magnetrolle hindurch. Ein Deckel nach dem anderen wird gegen die Schwerkraft angezogen.

„Metalldeckel stören uns überhaupt nicht“, widerlegt Prechtl meine Altglaslogik. Kleine Metallteile können leicht vom Glas getrennt werden und Altmetall ist wertvoller als Altscherben. Ärger machen vor allem Plastiktüten, die sich um das Förderband wickeln. Die größten Feinde des Glases aber sind Keramik, Steine und Porzellan, kurz: KSP. Die schmelzen erst bei höheren Temperaturen und dehnen sich bei Temperaturschwankungen unterschiedlich stark aus.

Schon kleine Einschlüsse im Glas können die Spannung zu groß werden lassen und die Flasche zum Platzen bringen. Damit so wenig KSP wie möglich in die Schmelzwannen gerät, werden die Altscherben vorher optisch von Maschinen sortiert. Dabei rutschen die Scherben am Licht vorbei. Lässt eine Scherbe kein Licht durch, weil sie aus Keramik oder Porzellan ist, schießt Pressluft aus einem Ventil und schleudert sie aus dem Fluss der Glasscherben.

Heißes Ende

Die aufbereiteten Scherben werden mit Quarzsand, Kalk, Soda und Dolomit vermengt. Rezepturen für Weißglas sehen rund 70 Prozent Altscherben vor, Rezepturen für Grünglas mehr als 90 Prozent. Eine Schaufel schiebt sie in die Schmelzwanne aus feuerfestem Stein und taucht sie in das geschmolzene Glas, das rund 1350 Grad heiß ist und aussieht wie Lava. 15 LKW-Ladungen werden täglich in der größten Wanne geschmolzen. Von dort werden einzelne Tropfen orange glühendes Glas in die Formen gegossen. Nach wenigen Sekunden werden sie grün, nur der dickere Boden glüht noch einen Moment nach.

An den Maschinen ist es zwischen 80 und 100 Grad heiß. Trotzdem arbeiten hier Menschen rund um die Uhr. Drei Tage Frühschicht, ein Tag frei, drei Tage Nachtschicht, ein Tag frei. Einer von ihnen ist Maschinenführer André Christmann, 37 Jahre alt, ein kräftiger Kerl mit Vollbart und einem Adler-Tattoo am Hals. Alle paar Sekunden greift er mit einer langen Zange eine Flasche heraus, schaut sich Boden und Mündung an, sucht sie nach Luftbläschen und Einschlüssen ab. Das Glas ist noch so weich, dass es sich in der Zange verformt. Später wird es wieder eingeschmolzen. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet Christmann für Wiegand-Glas. Auch drei seiner Geschwister arbeiten hier: als Verlademeister, als Stapler und als Putzfrau. Die Schichtarbeit mache ihm nix. Nur die Wärme. Im Sommer trinkt er sieben Liter pro Schicht.

Kaltes Ende

Vom heißen Ende, der Produktion und Abkühlung, fahren die Flaschen zum kalten Ende, der Qualitätssicherung und Verpackung. Mehrere Prüfmaschinen durchleuchten jede Flasche auf Risse, ungleichmäßig geformte Böden und Mündungen. Menschen am Fließband kontrollieren nach. Dann werden die Flaschen maschinell auf Paletten verpackt, fahrerlose Wagen bringen sie ins Lager. Angst haben brauche man vor ihnen aber nicht, sagt Prechtl und stellt sich einem in den Weg. Der Wagen, der rund 8000 Flaschen transportiert, kommt anderthalb Meter vor ihm zum Stehen. Ein Laser hat ihn als Hindernis erkannt.

Laderampe

Während aus Altscherben neue Behälter entstehen, reinigt Markus Nickol die Ladefläche seines Lastwagens und duscht sich dann den Glasstaub vom Körper. Nach einer dreiviertel Stunde gesetzlich verordneter Ruhepause füllt er seinen Lastwagen an der betriebseigenen Tankstelle auf. Dann fährt er rückwärts an die Verladerampe, um 36.000 Bordeaux-Flaschen einladen zu lassen, die ein Abfüller aus Bingen am Rhein geordert hat. Die ausgetrunkenen Flaschen werden ihren Weg in die Glashütte dann über einen der 300.000 Altglascontainer in Deutschland finden. Jedenfalls ist das bei 87 Prozent der Glasverpackungen so. Und dann geht alles wieder von vorne los.

Eigentlich blöd, denke ich am Ende meiner Reise. Um ein nur einmal benutztes Glas zu schmelzen, braucht es schließlich ganz schön viel Energie. Erst bei Mehrweg überwiegen seine Vorteile. Glasflaschen werden bis zu 52 mal wieder befüllt. Für Apfelmus, saure Gurken, Sekt und viele andere Lebensmittel sucht man Mehrweg-Konserven aber vergebens, selbst in Bioläden. Weil Dosen aus Weißblech oder Aluminium ähnlich schlechte Ökobilanzen haben, bleibe ich beim Einweg-Glas. Es ist immer noch ein schönes Material, das keine ungesunden Stoffe absondert, außerdem kommen die Rohstoffe dafür aus Deutschland. Trotzdem: Glas ist nur dann wirklich gut, wenn es Mehrweg ist. Aber vielleicht weitet sich das System ja noch auf andere Nahrungsmittel aus. Einige Imker und Joghurt-Hersteller zeigen schon, dass es geht.

Schade nur, dass das Geräusch von zerschellendem Glas sich nun nicht mehr so schön anhört.

In einer kürzeren Fassung erschienen bei taz. am wochenende (7. November 2015)