Christina Ernst ist 41, blind und todkrank. Von einer, die noch lange nicht fertig ist mit dieser Welt.
In der Straßenbahn zur Kletterhalle bleiben einige Blicke an Christina Ernsts Gesicht hängen. Ah, ein langes Pflaster, denken sie vielleicht über das, was ihr rechtes Auge verdeckt. Wahrscheinlich hätte ich das auch gedacht, wenn ich ihr einfach so begegnet wäre. Tatsächlich hat sie gar kein echtes Auge mehr. Und das, was aussieht wie ein Pflaster, ist ein Stück von Christinas Rückenhaut.
Von der Straßenbahn bis in die Umkleidekabine biete ich Christina meinen Arm an. Wäre sie allein, würde sie ihren faltbaren Stock aus dem Rucksack holen. Aber so ist es einfacher für sie. Nun bin ich es, die sie auf Hindernisse aufmerksam machen muss, damit sie nirgendwo gegen stößt, nicht umknickt, nicht ins Leere tritt – oder in Hundekacke. In der Umkleide muss ich über ihre Socken lachen. Sie sind knallbunt und es sind Faultiere drauf. „Sie machen mir gute Laune“, sagt Christina. Allein zu wissen, dass sie lustige Socken anhat.
„Als ich zwei war, habe ich oft nicht erkannt, ob meine Mutter oder mein Vater zur Tür reinkommt“, erzählt sie. Schuld an ihrer Sehschwäche war ein Retinoblastom, eine seltene Krebserkrankung in der Netzhaut, die bei ihr genetisch bedingt ist. Ein Auge musste gleich entfernt werden, das andere versuchte man durch Bestrahlung zu retten. Doch kurz vor ihrem vierten Geburtstag musste auch das durch ein Auge aus Glas ersetzt werden. Von nun an war sie vollständig blind. Der Tumor galt als verschwunden.
Mittlerweile ist Christina Ernst 41 und ihr Weg war nicht der, den die Gesellschaft für blinde Menschen vorsieht. Statt eine Blindenschule besucht sie erst die Grundschule, dann das Gymnasium um die Ecke. Das Abi schafft sie mit 1,0 – und zwar als erste blinde Schülerin überhaupt, die in Niedersachsen komplett integrativ beschult wurde. Für diese Leistung wird sie in den ZDF-Jahresrückblick „Menschen 2003“ von Johannes B. Kerner eingeladen, wo sie unter anderem auf Loriot, die deutschen Fußballweltmeisterinnen und Aron Ralston trifft, einen Kletterer aus den USA, der fünf Tage in einer Felsspalte eingeklemmt war und nur überlebte, weil er sich selbst den Unterarm amputierte.
Was Christina werden will, weiß sie schon seit Jahren: Pastorin. Darauf kam sie während eines Schüleraufenthalts in Kanada, den sie sich über Verwandte, die in der Nähe von Toronto leben, selbst organisiert hat. Auf der mennonitischen Schule gehörte es zum Alltag, über Werte, Glaube, Ethik zu sprechen. Das gefiel ihr. Sie beginnt evangelische Theologie zu studieren, promoviert, wird Pastorin, übernimmt ihre erste Gemeinde auf Probe. Eine Assistentin hilft ihr beim Konfirmandenunterricht, begleitet sie zu Geburtstagsbesuchen und auf Beerdigungen.
Nach drei Jahren wird sie – aus Neugier wie Kirchenpolitik gemacht wird – persönliche Referentin für das höchste Laienamt der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie schreibt Reden für die Präses, bereitet die Synode vor, das ist so etwas wie das evangelische Kirchenparlament. Die Arbeit an der Basis erfüllt sie allerdings noch mehr. Nach drei Jahren nimmt sie eine Stelle beim Forum Kirche und Diakonie Göttingen an, ein Ort, der viele Beratungsstellen und Einrichtungen der Diakonie und das Theologische Studienhaus versammelt. Ihre Aufgabe ist es, die Angebote zu vernetzen und sichtbar zu machen.
Leicht ist das alles trotz hervorragender Leistungen nicht. Denn neben ihren Eltern und einigen anderen, die sich sehr für sie einsetzen, trifft sie immer wieder auf Menschen, die ihr wenig zutrauen. In der Schule hört sie Sätze wie: „Mal schauen, wie du dich machst, und ob du bleiben kannst.“ In der Studienberatung wird sie gefragt, ob sie nicht lieber Jura studieren will – Hebräisch und Alt-Griechisch seien so schwer. Ihre erste Pfarrstelle bekommt sie nur gegen den Willen des halben Kirchenvorstands. Und als persönliche Referentin wird ihr gesagt, sie möge bitte nicht jeden Mittag mit den Kolleginnen essen gehen – die müssten sich doch auch mal erholen. Heute kann sie darüber lachen, wenn sie davon erzählt. Aber es ist kein amüsiertes Lachen, eher ein ungläubiges.
Christina versucht auf ihre Weise, den Blick auf Blinde zu verändern. Auf Instagram schreibt sie unter dem Profil @christina.auf.der.spur vom prickelnden Gefühl, sich den Eisbach in München herunter treiben zu lassen, postet Bilder vom Klettern im Harz und ein Video von ihrem ersten Gleitschirmflug, Hashtag: #waspastorinnensomachen. Sie erklärt, was sie mit Farben verbindet, wie sie Klamotten kauft und ermutigt Nutzer, sie alles zu fragen, was sie gerne mal eine blinde Pastorin fragen würden.
Ihre offensive Art gefällt mir. Und doch liegt auch eine Schwere auf unserem Kennenlernen für diese Geschichte. Im Sommer 2020 wurde bei ihr ein Leiomyosarkom diagnostiziert, ein sehr seltener, sehr bösartiger Krebs. Christina rennt die Zeit davon. Seit Frühjahr 2023 ist die Behandlung palliativ, das heißt, der Krebs wird nicht mehr weggehen. Wie geht sie damit um?
„Ich habe acht oder zehn Metastasen“, erzählt sie, als ich sie am Nikolaustag in Hannover besuche. Ihr Wohnzimmer ist mit Engeln, Sternen und Krippenfiguren geschmückt, zwischen uns brennt eine Kerze. Christina fährt mit ihren Fingern ihren Oberkörper ab, wo sie die Metastasen vermutet. Übermorgen werden ihr die Ärzte sagen, ob sie größer geworden sind.
Die Chemotherapien, die es bislang gibt, sind nicht spezialisiert auf diesen seltenen Krebs. Sie können ihn zurückdrängen, aber nicht zerstören. „Wenn die Chemo nicht anschlägt oder sie meine Leber- und Blutwerte zu sehr belastet, gibt es noch zwei weitere Medikamente“, sagt sie. Das eine ist eher schwach, das andere so stark, dass das Gefühl in Zehen und Fingern davon weggehen kann. Danach wäre man an dem Punkt, an dem man sagt: Man kann nichts mehr machen. „Und dann wird es, glaube ich, nicht mehr so lange gehen.“
Sie ist gefasst, als sie davon erzählt. Nicht, weil sie sich mit dem Tod arrangiert hat. „Ich bin fassungslos, dass es das schon gewesen sein soll“, sagt sie später. „Aber man kann ja auch nicht von morgens bis abends Angst haben“, sagt sie und lacht. Und doch ist sie natürlich immer wieder da, die Angst. Manchmal hängt sie tagelang wie eine dunkle Wolke über ihr. An solchen Tagen liegt sie dann oft mutlos auf ihrem Sofa, kuschelt sich ein, hört Krimis und überlegt, wie sie die dunkle Wolke loswerden kann. Sie will die Angst nicht verdrängen, aber auch nicht ohnmächtig werden durch sie.
Ein Partner an ihrer Seite wäre gut. Aber den hat sie nicht. Zwei längere Beziehung gab es, aber keinen, mit dem sie sich vorstellen konnte, das Leben zu teilen. Immer mal wieder hat sie Momente, in denen sie traurig darüber ist. Gerade an Weihnachten, wenn alle bei ihren Lieben sind. Und an Hochzeiten. Wenn sie sich gerade nicht so richtig mitfreuen kann, hält sie lieber etwas Abstand. Sie möchte anderen ihr Glück nicht kaputt machen. Ohne den Krebs hätte Christina selbst gerne Familie gehabt. Aber ihren Krebs vererben, das wollte sie nicht.
Was sie hat, sind ungewöhnlich viele sehr gute Freundinnen und Freunde. Sie helfen ihr, die dunkle Wolke zu vertreiben, halten die Schwere mit ihr aus, erleben das Schöne mit ihr zusammen. „Es ist ein riesiges Geschenk, mich meiner Angst nicht allein stellen zu müssen“, sagt Christina.
Im Moment unternimmt sie viel, um nicht ständig an den Arzttermin denken zu müssen. Sie hat einen Geburtstagsgutschein eingelöst und sich in einem Gehege mit einer Elefantendame angefreundet, sie geputzt und mit Möhren gefüttert. Sie hat dreieinhalb Wochen Urlaub in Südafrika gebucht, um Freundinnen zu besuchen. Sie verabredet sich, um Poffertjes – niederländische Minipfannkuchen – auf dem Weihnachtsmarkt zu essen. Außerdem ist klettern sehr gut gegen Angst, hat sie herausgefunden. Am Nachmittag fahren wir also zusammen in die Kletterhalle.
In der Halle des Deutschen Alpenvereins hört Christina schon von Weitem, wo Sosa Kinat ist. Sosa trägt ihre vollen Haare zu einem Zopf geflochten, dazu Klettergurt und Wollsocken in Croqs. Sosa ist 15 Jahre älter als Christina, hat einen Feinkostladen und ist Trainerin in der inklusiven Klettergruppe. Die beiden kennen sich seit dreieinhalb Jahren, etwa so lange wie Christina klettert.
Christina möchte mit einer leichten Route einsteigen. Sosa führt Christinas Hand zum ersten Griff und ihren Fuß zu einem Tritt auf Kniehöhe. Griffe und Tritte sind relativ dicht geschraubt. Christina stemmt und hangelt sich an der 15 Meter hohen Wand Richtung Decke. Wenn sie doch mal suchen muss, hilft Sosa: „Greif mal zwei Löcher nach oben und eins nach links.“ Suchen macht müde.
Als Christina ein Drittel geschafft hat, ruft sie etwas außer Atem: „Mach mal fest, ich will ein bisschen schwingen.“ Dann will sie wieder runter. Die Stimmen und Geräusche unter ihr klingen weit weg für sie. Höher möchte sie gerade nicht und Sosa überredet sie auch nicht, obwohl sie mit ihr auch schon 20 Meter hohe Felsen raufgeklettert ist. Nach und nach gibt sie Seil frei, bis Christina wieder Weichmatte unter den Füßen hat.
Vor etwa einem Jahr fing es mit der Höhenangst an und Christina hat auch eine Idee, woran das liegt. „Ich habe nicht mehr das Gefühl, mit beiden Beinen im Leben zu stehen“, sagt sie. Die Verunsicherung, nicht zu wissen, wie es weitergeht, und dass es immer noch schwerer wird, spiegelt sich auch beim Klettern wieder.
Bei der ersten OP, die im Oktober 2020 stattfindet, sollen Teile des Schädelknochens und des Jochbeins entfernt werden. Das heißt: Wenn sie leben will, muss sie ein Stück ihres Gesichts hergeben. Werde ich mein strahlendes Lächeln verlieren? – fragt sie sich. Werden die Menschen vor mir zurückschrecken?
Sie hat Angst, dass ihr Gesicht unter einer Maske verschwinden wird. Und doch will sie diese Angst auf keinen Fall mit in die OP mitnehmen. Sie lädt ihre Freundin Kerstin Birnstein ein und bittet sie eine Woche vorher, ihr die Haare abzurasieren. Für die OP müssen die Haare ohnehin ab. Als ihr Kopf kahl ist, legt Christina Lippenstift auf, zieht ein rotes Kleid an, lächelt in Richtung Kerstin, die eine Handykamera in der Hand hält. „Umstyling“ nennt sie die Fotoserie, die ihre Freundin von ihr macht. „Ich wollte meinem Körper sagen, dass ich komplett dahinterstehe“, sagt sie. Die Vorbereitung hilft ihr, Gott und die Ärzte machen zu lassen.
Die OP dauert zwölf Stunden. Dabei wird ein Stück ihres Rückenmuskels samt Haut in der Größe einer Handfläche von der Nasenwurzel bis zum Ohr über Wange und Augenbrauen genäht. Dort eingeheilt, soll er die Aufgabe des fehlenden Bindegewebes übernehmen. „Das sieht so gut aus!“, sagt ihre Freundin Kerstin, als Christina wach wird. Das hilft ihr. Schon bald geht Christina wieder unter Leute. „Ich wollte gar nicht erst damit anfangen, mein Gesicht zu verstecken“, sagt sie.
Es hilft ihr auch, dass das Fremde in ihrem Gesicht ein Stück ihres eigenen Körpers ist. „Irre, wozu der Körper fähig ist, oder?“, sagt sie. Was sie stört, ist, dass jeder ihr sofort ansieht, dass sie krank ist. Im Freundeskreis ihrer Freunde finden sich zwei, die ihr Augenklappen nähen. An die 30 Stück hat sie: in Altrosa, dunkelrotem Samt, mit Blumenmuster oder Strasssteinen drauf, für jede Stimmung, für jedes Outfit ist etwas Passendes dabei.
Obwohl der Krebs vollständig entfernt werden konnte, wird sie noch sechs Wochen lang bestrahlt. Nach anderthalb Jahren ist er trotzdem wieder da. Und weil der Tumor an einer blöden Stelle liege, könnten sie weder operieren noch therapieren, sagen die Ärzte.
Christina sucht nach Wegen, nicht durchzudrehen. Mit einer befreundeten Pastorin spricht sie übers Beten und erfährt, dass sie beim Beten gerne eine Ikone oder andere religiöse Bilder anschaut. „Ich kam dann darauf, dass ich etwas brauche, was ich anfassen kann“, erzählt sie. Ein Rosenkranz kommt ihr in den Sinn, unwichtig, dass Rosenkränze eine katholische Tradition sind. Sie finden einen im Internet, der über 100 Jahre alt ist. „Ich wollte einen, der schon anderen Beruhigung gestiftet hat“, sagt sie.
Wie man einen Rosenkranz betet, lernt sie aus YouTube-Videos. Nach zehn Perlen mit je einem Ave Maria kommt eine große Perle mit einem Vaterunser, dann wieder zehn kleine Perlen Ave Maria. Einmal Rosenkranz beten dauert etwa eine halbe Stunde. Der Rhythmus, wie die Worte und Silben gesprochen werden, beruhigt den Atem. Christina merkt, wie sie auch insgesamt ruhiger wird. „Immer, wenn die Angst zu groß geworden ist, habe ich das gemacht“, sagt sie. „Durch das Gebet kam auch das Vertrauen zurück, dass es schon gut werden wird oder ich mich dem überlasse, was dann einfach so passiert.“
Bald sagen die Ärzte, dass sie doch operieren können. Im November 2022 entfernen sie ihr in einer acht-stündigen OP das rechte Kiefergelenk. Erstmal sieht alles gut aus. Doch wenige Wochen später ist der Krebs wieder da. Und diesmal ist er überall. An eine Heilung glauben die Ärzte nicht mehr.
Christina klettert trotz Höhenangst weiter. „Klettern hilft mir, dass ich meinem Körper mehr zutraue“, sagt sie an diesem Nikolaustag in der Kletterhalle. Nach einer Pause möchte sie eine schwierigere Route probieren. Sosa sagt ihr nun fast jedes Mal auf welcher Höhe sie den nächsten Griff findet. Dann kommt eine besonders schwierige Stelle. Mittlerweile schauen vier Leute zu, die vermutlich alle das gleiche denken: Ui, der Griff ist aber weit weg! Sosa beschreibt, Christina stößt sich ab, greift zu, findet Halt. Aufatmen am Boden. Auf siebeneinhalb Metern möchte Christina wieder abgelassen werden – lieber mit einem entspannten Gefühl aufhören.
Würde man alle Sachen aufschreiben, die Christina und ihre Freunde und Familie gemeinsam gegen die Angst gemacht haben, würde es eine lange Liste werden. Das „Umstyling“ vor der ersten OP würde mit ganz oben stehen. Auch das Gleitschirmfliegen. Als die Ärzte ihr sagen, dass der Krebs zum zweiten Mal zurück ist und sie nichts mehr tun können, lädt Sosa sie zum Gleitschirmfliegen in den Harz ein. Auch früher hatte sie sie schon eingeladen. Aber diesmal sagt Christina ja. Es ist ein warmer Tag Mitte Mai 2022. Christina und Sosas Mann starten als Tandem. „Ich habe mich ganz frei und leicht gefühlt und getragen wie in einer Hängematte, die durch die Gegend fliegt“, erzählt sie. „Gerade weil ich so große Angst hatte, war es die Zeit, sich sowas zu trauen.“
Auch die Bilder zu dieser Geschichte sind Teil ihrer Art, der Angst nicht das Feld zu überlassen. Gemacht hat sie sie mit ihrer Freundin, der Fotografin Christina Lux. Die beiden kennen sich seit 19 Jahren. Sie haben sich als Stipendiatinnen der Studienstiftung des Deutschen Volkes bei einer Sommerakademie kennengelernt. Vor 18 Jahren hatte Christina Lux sie dann als Teil einer Porträtserie für ihre Diplomarbeit fotografiert. Es ging darum, wie Blinde ihre Umgebung wahrnehmen, um das Sehen mit vier Sinnen.
Auch für Christina Ernst war das spannend. „Ich war damals noch viel mehr Kopfmensch, weil ich immer versucht habe, mich der sehenden Gesellschaft anzupassen und durch mehr Leistung mein Defizit auszugleichen“, sagt sie. Manches wird ihr erst durch das Fotografieren für die Diplomarbeit ihrer Freundin bewusst: Nicht jeder spürt, wo Autos parken. Nicht jeder riecht, wann die Milch auf dem Herd beginnt warm zu werden. Nicht jeder hört so viel, wie sie mit ihren „Salatblattohren“.
Es ist nicht nur eine gemeinsame Suche nach guten Motiven und Perspektiven, sondern auch nach Sinnlichkeit. Christina entdeckt, wie schön frisch vom Baum gefallene Kastanien in der Hand liegen. Wie lebendig es sich anfühlt, wenn die Möwen über ihr kreisen, weil sie Toastbrotkrümel in die Luft wirft. Wie traumhaft ein Schaumbad sein kann, wenn man versehentlich viel zu viel Zusatz hineingekippt hat.
Vor der zweiten OP beginnen die beiden wieder zu fotografieren. „Die unterschiedlichen Phasen festzuhalten, hilft mir, mich zu fragen: Wie geht es mir damit und wie verändert sich meine Identität?“, sagt Christina Ernst. Kauen, sprechen, lächeln – all das muss sie ohne rechtes Kiefergelenk wieder neu lernen. Sie übt viel. Ihr Lächeln ist wieder strahlend. Seit einigen Monaten trägt sie nun auch keine Augenklappe mehr. „Eine Freundin hat gesagt, dass es so lebendiger aussieht“, erzählt sie. Mehr brauchte es nicht mehr.
Christinas Freundin Christina Lux lebt mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern in einer anderen Stadt. Trotzdem begleitet sie Christina Ernst so oft es geht mit der Kamera. Etwa in den Harz zum Klettern; zu ihren Eltern, wohin sie wegen des Krebses noch einmal gezogen ist; ins Krankenhaus kurz nach der zweiten OP; sie ist dabei, als Christina die Kartons in ihrer neuen Wohnung auspackt, die ihr ermöglicht, wieder selbstbestimmt zu leben – selbst falls es nur für ein paar Monate sein sollte. Auch an ihrem 40. Geburtstag ist sie da, fotografiert, wie sich ihre Freundin von der Kosmetikerin schminken lässt, und wie sie dann vor Sosas Feinkostladen mit ihren Gästen anstößt.
Eins der Bilder zeigt Christina mit Krönchen und einer Scherpe, auf der „40 & Fabulous“ steht. Beides trägt sie zu einem pinken Kleid mit grünen Punkten und orangefarbenen Linien, darüber eine knallpinke Strickjacke. Requisiten, die an nervige Junggesellinnenabschiede erinnern, doch zu ihr passt es. Eine Geburtstagsprinzessin, die das Leben feiert, und ihre Freunde feiern sie.
Warum, in aller Welt, muss jemand so eine Scheißkrankheit auch noch zweimal bekommen? Und fragt sie sich da nicht, wie Gott so etwas zulassen kann?
Die Warum-Frage habe sie sich nie gestellt, sagt sie. Eher das: Wie schlimm ist es? Worum handelt es sich genau? Was kann man machen? Und wie kann ich mit der Situation umgehen? Manchmal wundert sie sich selbst darüber – und ist froh, dass die Frage sie nicht beschäftigt. „Es gibt darauf ja keine Antwort.“
Auch Gott stellt sie diese Frage nicht. „Ich habe einfach nicht so dieses ‚Gott mutet mir das zu, also muss er es auch lösen‘“, sagt sie. Es sei eher ein: ‚Gott muss mit mir da durch‘ oder ‚hoffentlich bin ich dann bei ihm gut aufgehoben‘.
Zwei Tage nach dem Klettern, kurz nach dem Arztbesuch, schreibt sie mir: „Es gibt sehr gute Nachrichten: Alle Metastasen werden kleiner und schwächer und die fiese in der Bauchspeicheldrüse ist nicht mehr sichtbar. Ich bin überglücklich! Jetzt kann richtig Weihnachten werden.:)“
Als wir uns zweieinhalb Wochen später wiedersehen, wirkt Christina gelöst und hat sogar neue Urlaubspläne gemacht. Im Mai will sie einen Teil des Jakobsweges gehen und im Juli nach Kirgisien reisen. Die hohen Stornogebühren hatten sie vor dem Arzttermin zögern lassen. Doch jetzt, wo die Metastasen kleiner geworden sind, hat sie sich gesagt: Wenn es dann doch nicht geht, sind die 2000 Euro das kleinste Problem.
Pläne machen ist wichtig für sie, denn sie weiß, dass der Befund nicht bedeutet, dass sie wieder gesund wird. „Ich will die Zeit, die ich durch die Chemo gewinne, ja nutzen, statt mein Leben in Krankenhäusern mit Warten zu verbringen.“ Notfalls müsse sich die Chemo auch mal nach ihr richten. So wie im Februar, wenn sie in Südafrika ist.
Dass Christina so viel reisen kann, weil sie krankgeschrieben ist und als Beamtin ihr volles Gehalt bekommt, empfindet sie als Privileg, einerseits. Andererseits ist es ihr ein Bedürfnis, zu arbeiten, Dinge machen zu können, die für andere relevant sind. Im November noch sah es so aus, als könnte sie Inklusionsbeauftragte für die Landeskirche Hannovers werden. Doch als es im Dezember dann konkreter werden sollte, hieß es, man brauche doch keine Inklusionsbeauftragte.
Christina ärgert sich, dass Inklusion hintangestellt wird. Sie würde gerne dazu beitragen, dass es nicht nur als Thema wahrgenommen wird, bei dem Forderungen nach Barrierefreiheit gestellt werden. „Inklusion ist etwas, wovon alle profitieren, weil jeder die Möglichkeit hat, seine Bedürfnisse sichtbar zu machen“, sagt sie. Also auch Schwangere, Eltern, Kinder, alte Menschen. Seit dem Bewerbungsgespräch, das dann doch keines war, wartet sie auf ein neues Stellenangebot. Und versucht die Zeit bis dahin zu nutzen.
Es gibt manches zu tun und zu überlegen. Eine Frage ist, was mal mit ihren persönlichen Dingen passieren soll. Ob sie ihren Freunden anbieten soll, sich etwas auszusuchen während sie noch da ist? Wie überleben die Geschichten, die viele ihrer Dinge erst wertvoll machen? Und was passiert mit ihren Tagebüchern, die sie eigentlich nur für sich geschrieben hat?
Sie möchte das sortiert haben, bevor sie vermutlich irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft in ein Hospiz zieht. Im Moment ist das noch weit weg. Als ich diesen Text schreibe, ist Christina in Kapstadt. Auf eine Nachfrage schickt sie mir Videos wie sie – geführt und mit Stock – auf den Tafelberg kraxelt. Und sie schreibt von ihrer zweiten Surfstunde, in der sie „nicht nur auf den Knien, sondern auch ganz allein mehrmals die Welle geritten“ ist!
Es scheint, als würde der Krebs ihr ein paar Wochen Ferien gönnen. Als sie aus Südafrika zurückkommt, werden allerdings drei neue Metastasen festgestellt. Die Kirgisienreise sagt sie daraufhin wieder ab. „Mir ist klar geworden, dass meine Gesundheit zu fragil ist, um in ein exotisches Land zu reisen, in dem Keime lauern, die für ein europäisches Immunsystem unbekannt sind“, sagt sie. Sie möchte die Zeit, die ihr noch bleibt, lieber mit Menschen verbringen, die ihr am Herzen liegen. Zu diesen Menschen gehört auch ihre Gastmutter in Toronto, die sie damals ohne viele Fragen aufgenommen hat. Die würde sie gerne noch einmal besuchen.
Ich muss an unser Gespräch kurz vor Weihnachten denken. Es ging darum, ob sie gern mit jemandem tauschen würde. „Es wäre natürlich einfacher, wenn ich sehen könnte oder nicht um mein Leben fürchten müsste“, sagte sie da. „Aber letztlich bin ich ja ich und finde das auch sehr erfüllend, so zu sein.“ Die Schicksalsschläge und Einschränkungen, die sie verarbeiten muss, gehörten untrennbar dazu. „Ich möchte nicht eintauschen, wer ich dadurch geworden bin.“
Erschienen in chrismon plus (Oktober 2024).
Foto: Christina Lux