Ich kenne Benni und Björn seit der Schulzeit. Dann erfähre ich, dass die beiden auf der A 9 eine Frau erschossen haben sollen. Das kann nicht sein! Oder doch?
Es ist einer dieser Sätze, die Menschen eigentlich nur in Filmen sagen: „Setz dich mal hin.“ An einem Tag im Herbst 2023 höre ich ihn zum ersten Mal im echten Leben, als ich mit einem Bekannten telefoniere. Ich bin auf der Suche nach Benni, einem gemeinsamen Freund, kann ihn schon länger nicht erreichen. Der Bekannte kommt schnell zum Punkt: Benni sei in U-Haft. „Google mal tote Lehrerin auf der A9.“
Ich stoße auf eine Schlagzeile der Bild-Zeitung: „Dieser Dackel-Papa heuerte Killer für seine Ex an.“ Es klingt so absurd, wie es sich nur die Bild ausdenken kann. Ich klicke auf den Link. Statt Benni entdecke ich ein anderes bekanntes Gesicht, trotz schwarzen Balkens über den Augen: Björn. Ich kenne Benni und Björn seit fast 30 Jahren, wir gingen in eine Klasse auf der Waldorfschule. Es war eine schöne Zeit. Lange her.
Ich google weiter, in unterschiedlichen Worten steht dort immer dasselbe: Eine 40-jährige Lehrerin ist am 10. Mai 2023 auf dem Standstreifen der A9 zwischen Beelitz und Brück in Brandenburg in einem Auto erschossen aufgefunden worden. Rund zehn Wochen später sind zwei Tatverdächtige festgenommen worden. Ihnen wird Mord beziehungsweise Anstiftung zum Mord vorgeworfen. Bei dem Anstifter soll es sich um ihren Ex-Partner und den Vater des gemeinsamen Sohnes handeln. Björn. Über den Schützen lese ich nichts, aber dass es Benni sein soll, hat mir sein Freund gesagt, der vernommen worden ist.
2023 wurden in Deutschland laut Kriminalstatistik 299 Menschen ermordet. 299 Leben von rund 84 Millionen. Und eines dieser Leben sollen Björn und Benni brutal beendet haben? Zwei der liebsten Menschen, die ich je kennengelernt habe? Ein Missverständnis – ganz bestimmt.
Mit Björn, der den Mord in Auftrag gegeben haben soll, bin ich oft nach der Schule ein Stück zusammen geradelt. Er hatte wallende braune Locken und zeigte mir einmal seine Schildkröten, denen er ein schönes Zuhause gebaut hatte. In der 9. Klasse gingen wir mittwochs zusammen segeln. Im Regen stellte er sich an die Pinne, damit ich in der Kajüte sein konnte.
Benni, der die Tat ausgeführt haben soll, war Streit immer aus dem Weg gegangen. Er hatte lange Arme und Beine und wollte oft „geknuddelt“ werden. Ich war die Erste, der er anvertraute, dass er schwul ist. In einem Theaterstück in der 12. Klasse kokettierte er im Kleid. Rote Haare, tausend Sommersprossen. Ein liebenswürdiger Sonderling, der in einer wundersamen, aber auch einsamen Welt lebte.
Nun saß ich da mit diesen fürchterlichen Neuigkeiten und fragte mich: Was mache ich damit? Björn hatte ich seit mehr als zwanzig Jahre nicht gesehen. Ich war zum Studieren nach Franken gezogen, bin Journalistin geworden und erst in der Pandemie nach Berlin zurückgekehrt. Über soziale Medien wusste ich, dass Björn Elektriker geworden war.
Auch Bennis Leben hatte ich jahrelang nur virtuell verfolgt. Vor einem Jahr hatte ich ihn dann wegen eines Caterings angerufen und er hatte ein fulminantes Büffet geliefert. Einige Monate später habe ich ihn besucht, um einen größeren Auftrag zu besprechen. Es rührte mich, dass alte Fotos von mir über seinem Bett hingen. An meinem 40. Geburtstag erzählte er mir dann, dass er mit dem Wohnmobil nach Italien zu seinem Bruder fahren wolle. Das war rund sechs Wochen nach dem Mord – von dem er nichts erwähnte.
Ich beschließe, Benni einen Brief ins Gefängnis zu schreiben. Und bekomme schnell Antwort. Er bestreitet, etwas mit dem Mord zu tun zu haben. Er glaube auch nicht, dass Björn darin verwickelt sei, und fragt, ob ich darüber schreiben könne – die Medien hätten schon so viel Falsches berichtet. Im Gegensatz zu Björn hat Benni kein Alibi. Dass Benni kurz nach der Tat seine Laube verkauft und sich auf die Reise nach Italien gemacht hat, wertet die Polizei als Fluchtversuch. Ist das alles, was die gegen ihn aufbringen können?
Zwei Briefe später erfahre ich: Da ist noch mehr. Björn habe einem Mithäftling anvertraut, dass er den Mord bei Benni in Auftrag gegeben habe und kein Problem damit habe, Benni die Tat in die Schuhe zu schieben, weil der nicht so helle sei. Benni wirkt fassungslos in seinem Brief. Er habe Angst, unschuldig verurteilt zu werden.
Eigentlich wollte ich nicht über den Mord schreiben. Ich bin keine Gerichtsreporterin und fühle mich auch viel zu befangen. Aber nun verspüre ich irgendwie den Drang, über den Prozess zu wachen. Außerdem will ich wissen, warum die beiden verdächtigt werden. Und wenn sie etwas damit zu tun haben sollten, will ich wissen, wie es dazu kommen konnte.
Am 15. Januar 2024 beginnt der Mordprozess gegen meine Schulfreunde am Landgericht Potsdam. 26 Prozesstage sind angesetzt, 160 Zeugen sollen angehört werden. Björn und Benni werden in Handschellen in den schmucklosen Verhandlungssaal geführt. Alle Zuschauerplätze sind belegt. Ich habe Björn jungenhaft in Erinnerung. Jetzt ist er ein Mann. Die Haare trägt er kurz, sie sind stellenweise grau geworden. Benni trägt Mütze und Sonnenbrille. Seine rechte Hand zittert stark. Als er mich sieht, verzieht er seinen Mund zu einem gequälten Lächeln.
Die Staatsanwältin verliest die Anklageschrift. Sie wirft den beiden vor, den Mord an Björns Ex-Partnerin Carolin gemeinschaftlich geplant zu haben. Björn und Carolin hatten zu diesem Zeitpunkt einen zwei Jahre alten Sohn, um den sie seit Sommer 2022 vor Gericht stritten. Im März 2023 bekam Björn das Aufenthaltsbestimmungsrecht zugesprochen. Carolin legte im April Rechtsmittel dagegen ein. Nach diesem Schritt habe Björn beschlossen, die Mutter seines Kindes umbringen zu lassen, weil sie für ihn zunehmend ein „Störfaktor in der Vater-Sohn-Beziehung“ gewesen sei.
Am 10. Mai 2023 soll Benni ihr Auto auf der A9 gerammt haben, um sie zum Anhalten zu zwingen. Dann soll er sie durchs Fahrerfenster erschossen haben. Die Wörter in meinem Block hallen nach. „Erst Oberkörper, Herz. Um sicher zu gehen, dass tot, zwei weitere Schüsse in Oberschenkel“, heißt es da.
Nach der Verlesung steht den Angeklagten das Wort zu. Björn erhebt sich und trägt mit gepresster Stimme vor: „Egal, was vorher war oder gewesen ist: Ich hätte niemals die Mutter meines Kindes umgebracht oder umbringen lassen. Ich habe mit dem Tod von Carolin nichts zu tun.“ Mehr sagt er nicht.
Benni hingegen will aussagen. Seine Stimme zittert. Dann spricht er anderthalb Stunden. Auch er bestreitet, etwas mit dem Tod zu tun zu haben. Aber er will darüber reden, was in den Wochen rund um die Tat passiert ist. Es geht einiges durcheinander: Erklärungsbedürftiges überspringt er, Unnötiges beschreibt er ausführlich. Wegen diverser Krankheiten habe er Frührente bekommen und sich mit dem Verkauf von Pizza und Crêpes etwas dazuverdient.
Björn, der ein Klassenkamerad gewesen sei, kein Freund, habe ein Mietshaus in Berlin-Zehlendorf besessen und ihn im Hof an seinem Verkaufswagen herumbasteln lassen. Über Carolin habe Björn erzählt, dass sie „eine schlechte Mutter“ sei, die dem Kind Gewalt antue. Als Carolin mit dem Jungen ins Frauenhaus zog, habe er von „Kindesentführung“ gesprochen.
Benni habe sich insgesamt 11.500 Euro von Björn geliehen. Um das Geld zurückzuzahlen, habe er bei Björn geputzt und, für 15 Euro „Schnüffelgeld“ pro Stunde, Carolin ausgekundschaftet, nachdem sie zurück zu ihrem Vater nach Brandenburg gezogen war. Vom Familiengericht hatte Björn erfahren, dass Carolin den Jungen ohne Absprache in eine zweite Kita gegeben hatte. Benni sollte herausfinden, wie oft er dort hingeht und wer ihn bringt.
Am Abend des 3. April 2023 sei Benni wieder bei Björn auf dem Hof gewesen. Da habe Björn ihn überredet, zu Carolins Elternhaus zu fahren. Björn sei ausgestiegen, Benni wegen eines immer schlimmer gewordenen Bandscheibenvorfalls sitzengeblieben. Plötzlich hätten die Mülltonnen gebrannt. Nur so, habe Björn gesagt, könnten alle sehen, was für eine schlechte Mutter Carolin sei. Auf dem Rückweg habe Benni ihm Vorhaltungen gemacht. „So was macht man nicht, egal, was für ein Streit.“
Am Abend, bevor Carolin erschossen wurde, sei er mit einem Freund auf einem Konzert gewesen, sagt Benni. Er sei an Krücken gegangen wegen seiner Bandscheibe. Er habe eine viel zu hohe Dosis Schmerzmittel eingenommen. Am nächsten Tag sei es ihm schlecht gegangen. Drei Tage später habe Björn ihm von dem Mord erzählt.
Björn habe gesagt, dass ihn alle verdächtigen würden. Nun müsse das Auto verschwinden, mit dem sie bei Carolins Elternhaus waren. Wer einen Brand lege, begehe auch einen Mord, könnte die Polizei doch denken. In dem Auto sei ihre DNA. „Ich wollte das nicht, aber dann dachte ich: Ich hänge da mit drin“, sagt Benni.
Weil Björn gesagt habe, dass er überwacht werde, habe Benni das Auto für 300 Euro nach Polen fahren sollen. Doch dann sei alles schief gegangen: eine leere Batterie, verlorene Schlüssel. Er habe die Kennzeichen abgenommen. Björn sei zornig geworden, er solle das Auto anzünden, es lägen noch weitere Kennzeichen unter der Fußmatte. Weil das Auto am Waldrand stand, habe er zunächst Bedenken gehabt, es dann aber schließlich doch in Brand gesetzt.
In mancher Hinsicht klingt Bennis Aussage für mich nach typisch Benni. Er machte die Dinge nach seiner ganz eigenen Logik. Oft klappte irgendwas nicht. Würde man so jemanden mit einem Mord beauftragen? Und müsste man einen Täter wirklich mehrfach bitten, das Tatfahrzeug zu beseitigen?
Ich denke wieder und wieder darauf herum, will nicht glauben, dass meine Schulfreunde einen Mord auch nur in Betracht gezogen haben. Aber genauso wenig will ich die naive Freundin sein, die ihre Augen vor den Tatsachen verschließt. Ich war überzeugt, dass ich es merken würde, wenn Benni lügt. Doch ich war auch überzeugt, dass Benni und Björn keine Brände legen. Und dann ist da noch diese Nachricht von Björn an Benni, die exakt auf jenen Tag fällt, an dem Carolin ins Frauenhaus gegangen war: „Kennst du einen, der das etwas unkonventionell löst für mich das Problem? Also jemanden, der beseitigt am besten?“ Das alles erschüttert mein Urvertrauen. Eine klassische Kriminalreportage ist von mir nicht zu erwarten.
Es wird Zeit, über den Menschen zu sprechen, der nicht mehr da ist. Über Carolin. Laut des gerichtsmedizinischen Gutachtens habe sie gleich der erste Schuss in die Brust getötet, er habe ihr das Herz zerrissen.
Ich denke oft an Carolin. Wer warst du und was ist mit dir passiert?
Es ist nicht einfach, sie zu fassen zu bekommen. Duales Studium beim Finanzamt, Auszeit in Australien, Psychiatrieaufenthalt, dann alles noch mal neu: Lehramtsstudium, Stelle in Brandenburg, ein Freund, der lieber durch die Welt radelt, als eine Familie zu gründen, schon bald ein Sabbatjahr, in dem sie selbst mit dem Rad von Alaska bis nach Mexiko fuhr. Sie wirkt auf mich wie eine Suchende, die nie so recht gefunden hat. Dann trifft sie im Frühling 2020 Björn.
Nur wenige Monate später wird sie mit Marian* schwanger. Und legt ihrem Vater ein Ultraschallbild auf den Tisch, dazu die Notiz: Du wirst Opa. Es sei ein absolutes Wunschkind gewesen. Als ihr Vater davon im Zeugenstand erzählt, habe ich kurz das Gefühl: Hier hätte Glück entstehen können.
Doch Carolins Vater sagt auch aus, dass seine Tochter und Björn sich schon ab Herbst 2021 immer öfter gestritten hätten. Unterschiedliche Vorstellungen von Haushalt, Björns Verbandelungen mit anderen Frauen, die Enge mit der Schwiegermutter nebenan, die sich zu viel eingemischt habe. „Man hatte das Gefühl, Björn wollte nur das Kind von Carolin.“
Ab Jahresbeginn 2022 habe Björn Carolin immer öfter signalisiert, dass sie ausziehen solle. Im Juni sei es dann zu einer Verbrühung von Marians Fuß gekommen, als Carolin sich eine Tasse Tee machen wollte. Björn habe ihr Vorwürfe gemacht. Er soll auch gesagt haben: „Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich dich umgebracht.“
Die Fotos der Wunde sind in der Ermittlungsakte, sie sehen schlimm aus. Björns Verteidiger führen aus, eine Hauttransplantation habe im Raum gestanden. Carolin habe die Verletzungen runtergespielt, keine Schmerzmittel gegeben. Ein Arzt habe den Verdacht geäußert, dass die Wunde absichtlich zugefügt worden sein könnte. Sie von einem Gerichtsmediziner untersuchen zu lassen, habe Carolin abgelehnt.
Eine Mutter, die ihrem Kind absichtlich Schmerzen zufügt?
Plötzlich wird ein Mordprozess zu einem Familienrechtsstreit. Ein weiterer Unfall wird immer wieder zur Sprache kommen. Marian soll aus einem Hochbett mit dem Kopf auf eine Kante gefallen sein, weil Carolin ihn dort kurz allein gelassen habe. Gegen Björn steht der Vorwurf von häuslicher Gewalt im Raum. Mir schwirrt der Kopf. Wem soll man hier nur Glauben schenken? Und: ist das überhaupt relevant? Am Ende ist ein Mensch tot. Sollte es nicht nur darum gehen?
Um sich ein Bild von ihr und ihrer Beziehung zu Björn zu machen, hört das Gericht mehr als 30 Zeugen aus ihrem Umfeld an. Großteile ihrer Familie beschreiben Carolin als offenen, sozialen und freundlichen Menschen. Die Vermutung, dass Carolin ihrem Sohn Marian absichtlich Schmerzen zugefügt hat, äußert keiner. „Für Marian hätte sie alles gemacht, sie wäre sogar gestorben für ihn!“, sagt ihr Bruder und schaut Björn dabei direkt an. Der schirmt sein gerötetes Gesicht mit einer Hand ab. „Ist sie dann ja auch“, sagt der Bruder leise.
Auch die Leiterin des Frauenhauses, in das Carolin mit Marian einen Monat nach der Verbrühung gezogen war, sagt, dass sie Carolin als eine sehr zugewandte und liebevolle Mutter erlebt habe, die sich angemessen und altersgerecht um ihr Kind gekümmert habe.
Aber da sind auch Zeugen, die eine andere Carolin beschreiben. Stur sei sie gewesen, dickköpfig, unnachgiebig. Was den kritischen Stimmen besonderes Gewicht verleiht, ist die Tatsache, dass unter ihnen auch Carolins Mutter ist. Sie hat sogar einen Brief ans Familiengericht geschrieben, in dem sie Carolin vorwirft, dass sie ihr den Enkel vorenthält.
Carolins Mutter hat vier Stunden warten müssen und wirkt etwas unwirsch, als sie im Zeugenstand Platz nimmt. Sie erzählt, dass sie zum Zeitpunkt des Todes „im Clinch“ mit ihrer Tochter gelegen hätte und es von Carolins Seite Funkstille gegeben habe. Carolin habe verletzend sein können und habe auch früher schon falsche Gewaltvorwürfe in die Welt gesetzt, etwa, dass ihre eigene Großmutter ihr den Kiefer gebrochen hätte. Im Streit um das Aufenthaltsbestimmungsrecht mit Björn sei es Carolin nicht mehr ums Kämpfen gegangen, sondern ums Vernichten.
Einiges, was sie sagt, klingt überraschend hart für eine Mutter, die ihr Kind verloren hat. Doch es gibt auch Sätze, die anders klingen: „Carolin war ich nochmal in jung. Ich konnte sie lesen“, sagt sie. Und dass sie sich liebend gerne noch 30 Jahre mit ihr gestritten hätte.
Als die ersten Zeugen geladen sind, die aus Björns Umfeld kommen, ist bereits ein Bild im Raum, auf dem er gar nicht gut aussieht. Unempathisch, pedantisch, manipulativ und abwertend sei er, ein Kontrollfreak, der seine Dackel besser behandelt habe als die Mutter seines Kindes. Die Positivliste ist kurz: hilfsbereit sei er, und er liebe seinen Sohn.
Carolins Neffe erzählt vor Gericht von einem Spaziergang mit Björn und seinen Dackeln. Björn habe einen Hundehalter angeschrien. Er sei erschrocken gewesen, dass der bis dahin so freundliche, ruhige Björn so aus der Haut fahren könne.
Ich höre das alles und staune. Ich habe Björn nie aufbrausend oder herrisch erlebt. Die Ausraster, die mir aus Schulzeiten in Erinnerung geblieben sind, hatten andere. Was mich befremdet, ist, dass Björn oft so unbeteiligt wirkt. Als wäre nicht er derjenige, um den es hier geht. Wenn sich unsere Blicke treffen, reagiert er nicht. Während ich mir mit Benni viel schreibe, habe ich ihm noch gar nicht geschrieben. Ich wusste einfach nicht, was.
Die erste Zeugin aus Björns Umfeld ist seine letzte Ex-Partnerin, und sie macht das Bild von ihm nicht besser. Erst als sie spricht, merke ich, dass es Lena* ist, auch sie war in meiner Klasse. Bei einer Segelklassenfahrt haben wir eine Front mit acht Windstärken abgewettert. Sie und Björn?
Lena erzählt, dass sie sich 2020 angenähert hätten. Sie habe bewundert, wie ruhig und bedacht er mit ihren beiden Kindern umgegangen sei. Er hätte gerne ein gemeinsames Kind mit ihr bekommen. Doch das sei ihr zu früh gewesen. Bald darauf habe er sich rar gemacht. Im Sommer 2022 seien sie dann wieder zusammengekommen, ein halbes Jahr später sei sie schwanger gewesen.
Dass Marian sein leiblicher Sohn ist, habe sie nicht gewusst. Carolin sei nur seine „Mitbewohnerin“, für deren Kind er die Vaterschaft anerkannt habe, habe er ihr erzählt. Dass ich im Gerichtssaal an meinen Fingernägeln kaue, merke ich erst, als ich ein piksendes Stück abbeiße und gefühlt alle gehört haben, dass ich das war.
Als Carolin mit Marian ins Frauenhaus ging, sei er außer sich gewesen, die Auseinandersetzungen seien danach immer heftiger geworden, sagt Lena. Wenn er wütend war, habe er oft gesagt: „Sie muss weg.“ Als sie die Serie „4 Blocks“ geschaut hätten, habe er einmal erwähnt, dass er ein Auto besorgen könne, das man nicht zurückverfolgen kann. Acht Wochen vor Carolins Tod, so zeigen es Chatverläufe, schrieb er Lena, dass er „kurzen Prozess“ machen würde, wenn sie beide nicht „so viel Schönes vorhätten“. Ein andermal: „Ich muss geduldig sein, auf den richtigen Moment warten.“ Sie habe ihn wüten lassen, habe sich nicht vorstellen können, dass es so weit kommen könnte, sagt Lena vor Gericht.
An Pfingsten 2023 habe er ihr dann geschrieben, dass er seit dem 10. Mai eigentlich gar nicht mehr schlafe. Er habe seinen Sohn jetzt rund um die Uhr und viel mit der Kripo zu tun. „Ich weiß auch nicht, warum sie mich da mit reinziehen.“ Gerade sei es besser, wenn sie sich nicht mehr sehen.
Da habe sie Carolins Namen gegoogelt und sei auf die Traueranzeige gestoßen, sagt Lena. Seine Wut, die Äußerungen, das Auto, vieles setzte sich plötzlich wie ein Puzzle zusammen. Sie habe einen anonymen Tipp bei der Polizei hinterlassen. Erst dieser Anruf machte Björn zum Verdächtigen.
Das Wiedersehen mit Lena bleibt nicht die einzige Überraschung an diesem Tag. Als nächstes setzt sich Annika*, auch um die 40, auf den Zeugenstuhl. Erstaunlich aufgeräumt erzählt sie, dass sie ebenfalls ein Kind von Björn hat. Marian, der Sohn von Carolin, ist das erste. Ihres ist das zweite, Lenas das dritte, das Björn innerhalb von zweieinhalb Jahren gezeugt hat.
Annika habe Björn übers Internet kennengelernt, beide hätten sich ein Kind gewünscht, sich aber einfach nicht verliebt. Im August 2020 habe sie ihn dann gefragt, ob er bei ihrem Kinderwunsch behilflich sein könnte. Er erkannte die Vaterschaft an und war auch bei der Geburt dabei, habe sich aber nicht wie ein Vater einbringen wollen. Dass er bereits ein leibliches Kind hat, habe sie nicht gewusst.
Die Zeugin sagt, dass sie ihn für unschuldig hält. „Weil er er ist.“ Sie kenne ihn nur als liebevoll, selbstlos und fleißig. Einmal habe sie ihm geschrieben, dass ihr Sohn immer noch so schlecht schlafe und ob er mal eine Nacht mitmachen könne. Da habe er gleich Termine geschickt.
Drei Frauen, drei Kinder, drei Leben. Der Björn, der mir einst seine Schildkröten zeigte und jener, der hier nun vor Gericht steht: Ich kriege diese beiden Personen nicht zusammen. Und es wartet noch eine Ex-Partnerin im Gang. Seine große Liebe. Die Frau, nach der er sich in jeder späteren Beziehung gesehnt hat.
Kurz nachdem die beiden sich kennengelernt hatten, war sie unverhofft schwanger geworden, entschied sich aber gegen das Kind. Für Björn war das kaum zu ertragen. Die Beziehung hielt seinem Schmerz nicht stand. Aber fortan verglich er jede neue Frau mit ihr. Keine löste in ihm so ein Gefühl aus. Carolin gegenüber ging er damit offen um, wie Chatverläufe zeigen. Als Carolin schwanger war und sie Björn fragte, ob er auch so strahlend durch die Gegend laufe, schrieb er bloß: „Noch nicht.“
Warum wird ein Mensch zum Mörder? Oft gibt es dafür einfache Erklärungen. Hier gibt es sie nicht. Egal, wie viele Zeugen auch aussagen, egal, welche Konflikte auch zum Vorschein kommen: nichts scheint nur ansatzweise groß genug zu sein, um so einen Schritt erklärbar zu machen. Klar wird nur: Björn wollte die Trennung, Carolin nicht. Sie sollte ausziehen, die Betreuung von Marian könne man sich doch aufteilen, Hälfte, Hälfte. Aber sie habe sich geweigert. Wenn sie ausziehe, so berichtet es Björns Mutter bei ihrer Zeugenaussage bei der Polizei, dann weit weg nach Brandenburg. Dann könne Björn seinen Sohn nur noch einmal im Monat sehen.
War es diese Drohung?
Im Juli 2023, etwa zwei Monate nach Carolins Tod, schnitt die Polizei ein Telefonat mit, in dem Björn einen weiteren alten Klassenkameraden von mir anruft, der anscheinend sein engster Freund ist. Als der Richter den Mitschnitt abspielen lässt, versteckt sich Björn wieder unter seinen Händen.
Freund: Wie geht es dir?
Björn: Es geht, ich habe ganz viel Stress, also wie immer. Marian ist jetzt immer bei mir.
Freund: Ich hoffe, das ist etwas, wozu ich dich beglückwünschen kann.
Björn: Dass es so ist, ja, wie es passiert ist, nicht, aber Pech gehabt für sie. (Lacht.) Klingt fies, viele schlaflose Nächte, davon muss ich dir mal in Ruhe erzählen.
Dass einer der nächsten Zeugen sagt, Björn sei ein Mensch wie ein Engel, dringt kaum mehr zu mir durch.
Nach Björn und Carolins Leben soll nun Bennis ausgeleuchtet werden. Was ist er für ein Mensch und, vor allem, ist er wirklich so krank, wie er vorgibt? War er nach dem Bandscheibenvorfall überhaupt in der Lage, in einem dynamischen Geschehen auf der Autobahn schnell aus dem Auto zu steigen und Carolin zu erschießen?
Als erste von rund 20 Zeugen, die seinen Charakter beschreiben sollen, wird am 9. Prozesstag seine Mutter geladen. Mit Bennis Krankheiten sei es schon bei der Geburt losgegangen. Er atmete nicht. In der Schule sei oft der Rettungswagen gekommen. Weil er schlecht hörte und sah, sei ihm vorgeworfen worden, bockig zu sein. Auf der Waldorfschule ging es besser. Doch eigentlich sei immer irgendwas gewesen. Benni habe sich gegen alle Widerstände gestemmt, aber auf Dauer sei der Druck für ihn im Arbeitsleben zu groß gewesen. Deswegen beziehe er Erwerbsminderungsrente. Mehr als drei Stunden Arbeit pro Tag seien ihm nicht zuzumuten.
Benni hat viel Zeit in einem Jugendzentrum verbracht. Die meisten seiner Freunde hat er hier kennengelernt. Sie beschreiben ihn als geradeaus, eigen, chaotisch, vergesslich, hilfsbereit, vor allem aber als: harmlos. Ein lebenslustiger Mensch, der so pazifistisch sei, dass er sogar Wasserpistolen ablehne.
Die Krankheiten seien immer schlimmer geworden, berichten die Freunde. Dass er wahrscheinlich nicht alt werden würde, darauf waren sie vorbereitet. Zuletzt habe er davon gesprochen, dass sich „sein Gehirn auflöse“ und er nach Italien zu seinem Bruder wolle, bevor er nur noch sabbern könne. Es habe aber auch Situationen gegeben, in denen er die Krankheiten schlimmer dargestellt habe, als sie es gewesen sind. Zuletzt habe er unter starken Rückenschmerzen gelitten. Aber wie war es am Tag der Tat?
Ein Freund von Benni bestätigt dessen Angabe, am Abend vor der Tat mit ihm auf einem Konzert gewesen zu sein. Er sei erschrocken gewesen über Bennis Zustand. Benni habe sich immer wieder auf seinen Opa-Stock gestützt, den er als Krücke nutzte. Benni sei aber auch jemand mit Geltungsbedürfnis. Wenn er Schmerzen habe, präsentiere er sie auch gerne.
Ein Facharzt für Neurologie wird als Gutachter befragt. Er habe festgestellt, dass Bennis Tremor in einer ruhenden Haltung meist stärker ausgeprägt ist als in Aktion. Wie sich sein Tremor bei zielgerichteten Handlungen – etwa Schüssen aus nächster Nähe – verhält, habe er nicht untersucht und ich frage mich: warum nicht? Wäre nicht das die entscheidende Frage gewesen? Bennis Reaktionen bei Tests hätten auf ihn demonstrativ bis theatralisch gewirkt.
Der Facharzt, der Benni vier Wochen nach der Tat operiert hat, bestätigt den Bandscheibenvorfall. Das Gewebe sei an mehreren Stellen verklebt gewesen, was zeige, dass die Beschwerden schon länger vorgelegen haben müssen.
Was folgt aus diesen Diagnosen? Mein Gefühl ist: nichts. Ja, es ging ihm schlecht. Nein, eine Entlastung ist das nicht.
Am 18. Prozesstag soll „der Mithäftling“ aussagen. Jener Mann, der bei der Polizei berichtete, Björn habe ihm gestanden, den Mord an Carolin bei Benni beauftragt zu haben. Ich bin nervöser als sonst. Ich habe mich oft gefragt, ob Björn einem Insassen wirklich von einer Tat erzählen würde, für die er mindestens 15 Jahre ins Gefängnis kommen kann.
Zeugenaussagen von Häftlingen sind mit Vorsicht zu genießen. Im Raum schwebt immer die Frage: Welche eigenen Interessen verfolgen sie?
Dieser Häftling gibt sich wie ein Beichtvater wider Willen. Er sei ein guter Zuhörer, obwohl er die Dinge eigentlich gar nicht hören wolle, die ihm erzählt würden. Er habe seiner Mutter auf dem Sterbebett versprochen, ein rechtschaffener Bürger zu werden. Nur deswegen sei er hier.
Björn habe ihm erzählt, dass Benni Carolin mit drei Schüssen getötet habe: einer davon sei ins Herz gegangen, ein anderer in den Unterleib. Die Waffe sei weg und ihr Tod ein „verfrühtes Geburtstaggeschenk an sie“. Eine Woche nach ihrem Tod wäre Carolin 41 geworden. Björn habe „cool sein“ wollen, habe gelacht.
Laut Björn sei die Idee von Benni ausgegangen, aber das habe er ihm nicht geglaubt, er habe zu Björn gesagt, er sei doch der einzige, der ein Interesse an ihrem Tod gehabt habe. Da habe Björn genickt. Dann habe er noch gesagt, er könnte die ganze Sache Benni in die Schuhe schieben.
Soll ich ihm das glauben? Diese Worte: „verfrühtes Geburtstagsgeschenk“. Wie kalt kann man sein? Aber je länger der Mithäftling die vielen Fragen beantwortet, desto mehr denke ich, dass Björn ihm etwas erzählt hat. Früher hätte ich gesagt: So würde Björn nie reden. Aber nun klingt mir das Telefonat mit meinem Klassenkameraden im Ohr. Wie Björn gelacht hat, als er von Carolins Tod sprach.
Mir wird klar, dass ich weder Björn noch Benni kenne. Ich befrage Bennis engste Freunde. Benni würde für seine Freunde so ziemlich alles machen, aus Zuneigung und um Anerkennung zu bekommen. Aber Mord? Unvorstellbar, glauben sie. Habgier passt auch nicht ins Bild. Benni sei bescheiden und zugleich großzügig mit dem wenigen, was er hatte. Genauso habe ich ihn erlebt. Auch Björn traue ich noch immer keinen Mordplan zu. Übersehe ich etwas?
Am 24. Prozesstag Ende Mai, als der Prozess eigentlich schon zu Ende hätte sein sollen, betritt ein bäriger Mann in Barfußschuhen den Saal, für den Björn als Elektriker gearbeitet hatte. Der frühere Personenschützer hatte bei seiner ersten Zeugenaussage vor Gericht ein entscheidendes Detail vergessen zu erwähnen: dass Björn ihm einige Wochen vor der Tat eine Waffe gezeigt habe, eine Glock. Wenn das stimmt, könnte es sich um die Tatwaffe handeln. Das Kaliber passt zu den Patronenhülsen in Carolins Auto. Es wurden sieben Schüsse abgegeben.
Warum kommt Björns Auftraggeber erst jetzt damit? Aus Angst um seinen Waffenschein? Eine von vielen Fragen, die mich unbefriedigt zurücklassen. Aber meine Hoffnung, dass Björn nichts damit zu tun hat, schwindet. An Bennis Unschuld glaube ich immer noch.
Zum Ende der Beweisaufnahme hört die Kammer eine Reihe Sachverständige an. Genetiker, forensische Psychiater und nicht zuletzt Kfz-Experten. Mithilfe des Kartendienstes Mapillary, bei dem Nutzer millionenfach Fotos von Straßenansichten hochladen, können die Gutachter tatsächlich nachweisen, dass der am Waldrand abgebrannte Opel Vectra mit hoher Wahrscheinlichkeit das Tatfahrzeug gewesen ist. Die Luft für meine alten Schulfreunde wird dünner.
Als ich Ende Juli bei Björns Eltern klingele, stehen die Aussichten für ihren Sohn alles andere als gut. Sie haben eine Wohnung in Björns Mietshaus. Ich staune darüber, was er sich hier mit Hilfe eines Freundes aufgebaut hat. Gerade hat Björns Mutter eine Blechwanne mit Wasserpflanzen bestückt. So lange nichts entschieden ist, mache sie so weiter, sagt sie. Ihr stehen Tränen in den Augen. Dann fragt sie: „Wie sollen wir damit alt werden? Wie sollen seine Kinder und ihre Familien damit alt werden?“
Dass jeder den Prozess durch die Presse mitverfolgen könne, mache es noch schwerer. Für eine Aussage bei Gericht hätten ihre Nerven nicht mitgespielt. Sie hätte oft den Impuls, weit, weit weg zu fahren. Aber davon gingen die Probleme ja auch nicht weg. Marian hat keine Mutter mehr. Sein Vater ist im Gefängnis und die Großeltern können nicht ausschließen, dass er was damit zu tun hat. „Wir versuchen zu verstehen, was nicht zu verstehen ist“, sagt sie. Und dass für ihn da sein wollen. Ihren Enkel, der früher mehrere Stunden täglich bei ihnen war, haben sie seit der Verhaftung nicht mehr gesehen.
Auch sie wissen von der Theorie, dass Björn seinem Freund Benni die Tat in die Schuhe schieben wolle – ein quälender Gedanke. „Wenn Björn es war, war es Mord, und wenn Benni es nicht war, war es Doppelmord, nur dass eines der Opfer noch lebt“, sagt Björns Mutter.
Mr. Mi, ihr Kater, streicht um meine Füße. Als mir Björns Mutter noch den Hof zeigt, kommen wir an einer Sonnenblume vorbei, die aus einem Mauerwerk wächst. „Was macht denn die hier?“, sagt sie und greift nach ihr, lässt sie dann aber doch stehen.
Eine gute Woche später fahre ich zu Benni in die JVA in Neuruppin. Ich habe immer noch Hoffnung, dass er es nicht war. Wir umarmen uns lange. Er wirkt müde, blass, irgendwie leer. Aber es ist gut, ihn nach vielen Tagen Blickkontakt besuchen zu können. Über den Elefanten im Raum – den Prozess – dürfen wir nicht reden, also frage ich ihn über den Vollzug aus.
Zu 80 Prozent gebe es Kartoffeln mit Mehlschwitze, erzählt er mir. Oder Kartoffelbrei mit Mehlschwitze. Die rote Jogginghose und das gerippte Shirt, die er trägt, gehörten zu dem Pool an Kleidung, die mal der eine, mal der andere Insasse trage. Arbeiten darf er nicht, wegen seiner Krankheiten. Psychologin und Seelsorgerin sehe er regelmäßig. Eine Depression kündige sich an. Wenn er traurig sei, male er fröhliche Bilder. Wenn ich an das Ölbild von dem bunten Frosch mit der großen Brille denke, das er mir geschickt hat, muss er sehr traurig sein.
Nach draußen in die Freistunde gehe er nicht mehr. Auch in den Umschluss nicht. Da sei man mit anderen Gefangenen in einen Raum eingesperrt und es seien schon Leute mit gebrochener Hand und Platzwunden herausgekommen. „Wenn dir gesagt wird, dass sie dich abstechen wollen, dann willst du nicht mehr raus“, sagt er, als ich frage, wie er die Einsamkeit aushält.
Für den nächsten Prozesstag haben Bennis Anwälte die Ladung seines Zellennachbarn beantragt, der kurzzeitig in Björns Gefängnis untergebracht war. Es soll mit Björn gesprochen und von dessen Plan gehört haben, Benni die Tat in die Schuhe zu schieben. Doch der Mithäftling wendet sich gegen Benni. Er habe ihm Geld für eine Falschaussage versprochen. Benni widerspricht heftig. Sein Zellennachbar habe ihn nach der Ladung mit einer Falschaussage erpressen wollen.
Kurz bevor die Plädoyers anstehen, bricht Björn sein Schweigen. Über seinen Verteidiger lässt er eine ausführliche Stellungnahme verlesen. Darin schreibt Björn, dass Benni Carolin eigenmächtig und ohne sein Wissen umgebracht haben könnte. Benni habe ihm gegenüber angedeutet, „es für Marian getan zu haben“, denn er wisse, wie es sei, mit einer „schlechten Mutter“ aufzuwachsen. Dann sei es besser ohne Mutter.
Ist das ein perfider Plan von Björn? Oder hat Benni das tatsächlich so empfunden? Bennis Krankheiten hätten die Mutter-Sohn-Beziehung schon belastet, hatten Freunde vor Gericht gesagt. Zum ersten Mal frage ich mich, ob Benni nicht doch geschossen haben könnte.
Die Staatsanwaltschaft überzeugt Björns Versuch nicht, den Verdacht auf Benni als Einzeltäter zu lenken. In ihrem Plädoyer setzt sie die Indizien zu einem Puzzle mit nur wenigen fehlenden Teilen zusammen und fordert für beide nicht nur eine Verurteilung wegen Mordes, sondern auch die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld.
Björn habe den Sohn für sich allein haben und sich nicht mit Carolin absprechen wollen. Er habe sie verachtet und für eine schlechte Mutter gehalten. Benni habe seine Sichtweise übernommen und zu Ende gebracht, was er Björn versprochen habe. Besonders verwerflich sei, dass Benni seine Freunde schamlos ausgenutzt habe, bei ihnen vor und nach der Tat mit Krücken erschien, um ihnen weiszumachen, dass er zu so einer Tat nicht im Stande sei.
In seinem Schlusswort versucht Benni einige Dinge geradezurücken. Die Polizei habe nichts gefunden, das Beweis genug sein könnte für seine Täterschaft. Dann richtet er das Wort an Carolins Familie.
Es beschäme ihn, dass er sich so aufs Björns Seite gestellt und ihm nicht gesagt habe, dass dieser zu weit ging. Er bedauere, die andere Seite nicht mal angehört und nicht erkannt zu haben, wozu Björn in der Lage sein würde. „Es tut mir leid für Ihren Verlust. Es tut mir leid, dass Sie mit diesem Verlust leben müssen. Und ich hoffe, dass Sie sich nur an das Schöne erinnern“, sagt er. Seine Stimme bricht, er weint, als er seine letzten Sätze vorliest. Die Journalistin, die so ziemlich den ganzen Prozess neben mir gesessen hat, reicht mir ein Taschentuch, das ich dringend brauche.
War das nun ein Geständnis? Oder ist es wirklich nur Reue, die Dinge zu wenig hinterfragt und die Gefahr nicht kommen gesehen zu haben? Ich bin hin- und hergerissen, habe einen Haufen Hypothesen und tendiere mal zu jener und dann wieder zu keiner. Ich befürchte, dass das Gericht nur falsch urteilen kann. Unschuldig lebenslänglich– daran mag ich gar nicht denken.
Am 20. September 2024, nach 37 Prozesstagen, 182 Zeugen und elf Sachverständigen werden Benni und Björn zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, wegen gemeinschaftlichen Mordes aus Heimtücke und niedrigen Beweggründen. Bei Björn, dem „Urheber der Tat“, wird außerdem die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Die Tat sei von langer Hand geplant gewesen und „hinrichtungsartig“ ausgeführt worden. Dazu habe Björn sich durch verächtliche Aussagen hochrangig menschenverachtend verhalten. Eine Entlassung nach 15 Jahren ist damit praktisch ausgeschlossen.
Benni, so argumentiert der Vorsitzende Richter, bewege sich im Grenzbereich der schweren Schuld. Die Kammer gehe davon aus, dass Björn es sehr gut verstanden habe, ihn zu manipulieren. Benni habe die Tat aus falsch verstandener Freundschaft ausgeführt. Dass er sich teilweise eingelassen habe und sich am Ende aufrichtig bei Carolins Vater entschuldigt habe, sei ihm positiv ausgelegt worden.
Bennis Gesicht ist blutleer, als der Richter das Urteil verkündet. Björn wirkt gefasster.
Die Tatwaffe wurde nie gefunden. Es gibt keine DNA-Spuren, die Benni und Björn als Täter identifizieren könnten und keinen einzigen Tatzeugen. Mit anderen Worten: es gibt keinen direkten Beweis für ihre Schuld. Doch die Indizien sind laut Kammer erdrückend. Das Vor- und Nachtatverhalten ist mindestens auffällig. Nachrichten, Chat-Verläufe, Äußerungen in Telefonaten lassen es mehr als wahrscheinlich erscheinen, dass meine Schulfreunde diesen unfassbaren Mordplan ausgeführt haben, der nach einem eskalierten Unfallgeschehen aussehen sollte. Auch mich erdrücken die Indizien. Der Raum für Zweifel, er ist sehr klein geworden.
Dass Benni auf einen Menschen geschossen haben soll, übersteigt noch immer meine Vorstellungskraft. Den Gedanken, dass er seine Freunde benutzt haben könnte, um der Welt glauben zu machen, dass er es nicht gewesen sein kann, schaffe ich nicht an mich heranzulassen. Auch ich gehöre ja irgendwie dazu. Er hat sich gewünscht, dass ich die Chronistin sein soll. Und doch bin ich erleichtert, dass er nicht die gleiche Strafe bekommen hat wie Björn. Ich bin überzeugt: ohne Björn wäre Benni nun nicht für lange Zeit im Gefängnis.
Nach dem Urteil bekomme ich Briefe von Benni und auch Björn, dem ich geschrieben habe, als er begann, seine Sicht der Dinge zu schildern. Beide schreiben mir, dass sie es nicht gewesen seien. Auf einen Austausch mit ihnen, der weder von Verteidigern beeinflusst noch von der Staatsanwaltschaft gelesen wird, werde ich lange warten müssen. Gegen das Urteil, das noch nicht rechtskräftig ist, haben sie Revision** eingelegt.
Der Vater und die Geschwister von Carolin möchten nicht mit der Presse sprechen. In ihrer Aussage hat Carolins Schwester gesagt, dass es Marian gut gehe bei ihr. Wenn der Mond scheint, sage er, dass er die Mama sehen könne. Sein Vater schicke ihm selbstgemalte Postkarten. Er freue sich darüber. Wie sie ihrem Neffen einmal erklären soll, dass dieser Vater allem Anschein nach seine Mutter ermorden ließ, das liegt auch außerhalb meiner Vorstellungskraft.
*Namen von der Redaktion geändert
** Die Revision wurde im Juni 2025 abgelehnt. Das Urteil ist nun rechtskräftig. Benjamin bestreitet die Tat nach wie vor. Mit Björn habe ich seit der Ablehnung der Revision noch nicht gesprochen.
Erschienen in Zeit Verbrechen (Dezember 2024).