Reise

Insel aus Feuer und Eis

Auf Island kann man Mutter Erde quasi über die Schulter schauen, während sie neues Land produziert.

Seit Stunden ruckelt der Bus über eine ungeteerte, steinige Straße. In den unzähligen Schlaglöchern steht das Wasser. Die Hochlandpassage 35 Kjalvegur führt in leicht geschwungenen Bögen direkt zum Horizont. Kein Baum, kein Haus verstellt den Weg, wo früher die Gletscher herrschten und sich im Winter die Schneemassen bis zu sechs Meter hoch auftürmen. Die Straße wird dann unpassierbar. Erst wenn der Schnee abgetaut ist und die Schmelzwässer des Langjökull und Hofsjökull zu Tal geflossen sind, wird die Schotterpiste wieder geräumt und für den Verkehr freigegeben.

Rechts und links der Straße erstrecken sich ewig weite Geröllwüsten. Hier und da steht eine Steinpyramide, die den Versuch wagt, der Willkür der Natur etwas entgegen zu setzen. Früher dienten sie als Orientierungshilfen in der Einöde, heute werden viele als Zeitvertreib von Touristen errichtet.

Ich weiß nicht recht, was ich von der Landschaft halten soll. Ich hatte mir Island anders vorgestellt. So wie ich es aus dem Fernsehen kenne: Viel grüner und mit Islandpferden, die über saftige Wiesen galoppieren, deren Mähnen im Wind flattern und gülden in der Sonne schimmern. Bislang ist mir keiner dieser Vierbeiner begegnet. Geschweige denn eine Wiese. Höchstens ein paar Moose und Grasbüschel über die sich die Schafe hermachen, bringt diese Landschaft hervor. Island, die kalte Insel im Nordmeer, befindet sich eben nur eine Handbreit südlich des Polarkreises.

Das einheitliche Grau des Himmels verschwimmt in der Ferne mit dem Grau der Geröllwüste. Es fängt an zu nieseln. Mächtige Felsbrocken liegen verstreut in der Landschaft als hätten Riesen mit Murmeln gespielt und sie vergessen einzusammeln. Tatsächlich haben jedoch Gletscher die tonnenschweren Felsblöcke hierher gebuckelt. Seit vor circa 11.000 Jahren die Gletscher vor der Klimaerwärmung kapitulierten, kann man den Langjökull und Hofsjökull von der Straße nur noch aus der Ferne betrachten. Die beiden Eisgewaltigen hinterließen diese steinigen und dennoch weich gezeichneten Weiten.

Ascheversand per Luftpost

Während ich aus dem Fenster schaue, lenkt Fahrer Sören stoisch den Bus durch das monotone Hochland. Wie viele Isländer passt er seine Jobs den Jahreszeiten an. Im Sommer manövriert er schwere Reisebusse über die Insel, im Winter nimmt er Fische in einer Fabrik aus.

Mit einem lauten Krach endet plötzlich die Fahrt. Der rechte Stoßdämpfer ist gebrochen. In Deutschland würde man jetzt auf den ADAC warten oder gleich auf einen Ersatzbus. Sören nicht. Er steigt einfach aus, krempelt die Ärmel hoch, rollt eine Matte auf den Schotterweg und legt sich unter seinen Bus. Als der Mann den gebrochenen Stoßdämpfer ausgebaut hat, setzt er sich in Seelenruhe zurück ans Steuer. Die Ärmel sind längst wieder runter. Nur ein paar lehmige Flecken auf Hose und Hemd erinnern an den Zwischenfall. Der Bus kriecht fortan im Schritttempo über die Piste. Noch mehr Zeit, die Landschaft genau zu inspizieren. Die Unendlichkeit zieht in Zeitlupe vorbei.

Auf Island, das durch unzählige Vulkanausbrüche vor etwa 17 Millionen Jahren aus dem Atlantik auftauchte, geht es nicht gerade zimperlich zu. Hier regieren Feuer und Eis – manchmal miteinander, manchmal versucht auch einer von beiden seine Überlegenheit unter Beweis zu stellen. Im Schnitt bricht alle fünf Jahre einer der Lava spuckenden Berge aus. Auf der – geologisch gesehen – blutjungen Insel kann man Mutter Erde quasi über die Schulter schauen, während sie neues Land erschafft. Ein Meisterwerk schuf sie zuletzt im Jahr 1963 als es vor der Südwestküste heftig polterte und rauchte. Nachdem sich die Wolke aus Asche und Dampf verzogen hatte, ragte die neugeborene Vulkaninsel Surtsey ruhig und unschuldig aus dem Meer heraus.

Im Jahr 2010 Jahr demonstrierte das Feuer unter Island seine Macht auch über die Landesgrenzen hinaus. Die Aschewolke des Eyjafjallajökulls legte den Flugverkehr in Europa lahm. Nach der erfolgreichen Reviermarkierung des eigentlich gar nicht so unaussprechlichen Vulkans folgten wochenlange Aufräumarbeiten. Dabei entwickelten die Isländer reichlich Kreativität. So verschickten sie zum Beispiel kleine Mengen der Vulkanasche mit Hilfe einer offiziellen Briefmarke hinaus in die Welt.

Zwei Hälften – mit Lava gekittet

Der Bus schleicht und krächzt die Schotterpisten entlang, bis wie aus dem Nichts der Zeltplatz Hveravellir auftaucht. Ein scharfer Wind fegt über die Behausungen der Urlaubsnomaden hinweg. Wie kommt man auf die Idee, einen Campingplatz in die isländische Steinwüste zu bauen? Halbnackte laufen hier mit Handtüchern über der Schulter um ein Holzhaus. Dahinter steigt Dampf auf. Das Feuer unter Island spuckt nicht nur neues Land aus, sondern beschert der Insel auch unzählige heiße Quellen. Auch der Zeltplatz hat eine. Man badet in 40 Grad Celsius heißem Wasser, in das man am besten bis zu den Nasenlöchern tief eintaucht, um dem Wind eine möglichst kleine Angriffsfläche zu bieten. Weich und fast ein wenig ölig schmiegt sich das schwefelige Wasser um die Haut. Eine heiße Oase mitten in der Einöde.

Am nächsten Morgen kommt ein neuer Stoßdämpfer mit dem Jeep ins Hochlandcamp. Sören krempelt wieder seine Ärmel hoch und erledigt, was zu erledigen ist. Kurze Zeit später geht es erneut auf die Schotterpiste. Auf dem Weg zum Einsturzkrater des Vulkans Askja kämpft sich der Bus auf kurvigen Straßen durch endlose Lavafelder. Die Askja ist 1961 das letzte Mal ausgebrochen und hat seine Umgebung mit dunklen, scharfkantig glänzenden Gesteinswülsten überzogen. Hier ist es noch lebensfeindlicher als in den Geröllwüsten im Hochland. Hier wächst noch nicht einmal Moos. Diese Landschaft braucht die Menschen nicht.

Es verwundert nicht, dass die Testflüge für die Mondlandung mit der Apollo 11 in dem Gelände um die Askja durchgeführt wurden. Einsam, unwirtlich und faszinierend – die Gegend erinnert tatsächlich an den Erdtrabanten. Streng genommen übten die amerikanischen Astronauten Armstrong und Aldrin sogar auf heimischem Terrain, denn die Insel gehört zu 50 Prozent zu Amerika. Zumindest aus geologischer Sicht, denn rein tektonisch kann sich Island entscheiden, zu welchem Kontinent es gehören möchte. Während die eine Hälfte gen Amerika strebt, zieht es die andere in Richtung Europa.

Island ist das einzige Land, auf dem der Mittelatlantische Rücken oberirdisch verläuft. Durch ständig aufsteigendes Magma bildet sich hier neuer Ozeanboden und schiebt sich wie ein Keil zwischen die nordamerikanische und die eurasische Platte. Die Platten entfernen sich dadurch etwa zwei Zentimeter pro Jahr voneinander. Ein Hotspot unter der Insel sorgt dafür, dass bei Vulkanausbrüchen genug Magma aus dem Erdinneren nach oben steigt und beide Inselhälften zusammenhält. Die Askja liegt genau an dieser Nahtstelle.

Der Wandel ist Status quo

Weiter im Süden der Insel regieren beide Elemente gemeinsam. Das ewige Eis wird durch keinen geringeren repräsentiert als den Vatnajökull – den größten Gletscher Europas. Auf dem Weg zu einer Audienz beim Svínafellsjökull, einer Zunge des „Wassergletschers“, muss man zuerst durch verschieden hohe Endmoränenwälle, in die Schmelzwässer breite Täler eingeschnitten haben. Die gestaffelten Züge aus Gletscherschutt markieren, bis wohin das blaue Eis im Winter vorgerückt ist. Jeden Sommer schmilzt der Gletscher ab, im Winter stößt er wieder ins Tiefland vor. Der ewige Wandel ist auf Island Programm.

Der „Wassergletscher“ macht seinem Namen alle Ehre: Unter ihm schlafen mehrere Vulkane, die – auch wenn sie gerade einmal nicht ausbrechen – Unmengen von Eis schmelzen. Das Wasser läuft über breite Ebenen aus Sand und Kies ins Meer. Und wenn ein Vulkan ausbricht, ist es nur eine Frage der Zeit, wann der „Jökulhlaup“ – eine Gletscherflutwelle – die Südküste überrollt.

Der verheerendste Gletscherlauf seit Islands Besiedelung wurde durch einen Vulkanausbruch 1996 losgetreten, als unter dem Vatnajökull Lava in Verbindung mit Eis explodierte. Einen Monat nach der Eruption schossen pro Sekunde bis zu 50.000 Kubikmeter geschmolzenes Eis in einem 25 Kilometer breiten, reißenden Strom ins Meer. Hausgroße Eisblöcke tanzten durch die Fluten, brachten Strommasten sowie Brückenpfeiler zum Einsturz und spülten Teile der Ringstraße ins Meer. Die Isländer reagierten wie gewohnt, krempelten ihre Ärmel hoch und beseitigten ohne Aufheben die Spuren der Verwüstung – so als würden sie die herunterfallenden Herbstblätter wegräumen.

Weiter im Südwesten der Insel ist das Land versöhnlicher. Der Bus nähert sich seiner Endstation. Selbst hier am Fuße des Eyjafjallajökulls sprießt wieder grünes Gras. Kristallklares Wasser stürzt sechzig Meter in die Tiefe, als wäre nie etwas vorgefallen. Und es ist genau so, wie ich es aus dem Fernsehen kenne: saftige Wiesen und Islandpferde, deren Mähnen im Wind flattern und gülden in der Sonne schimmern.

Erschienen bei merian.de (Oktober 2010)