Leben

Die Hafenratte

Eigentlich braucht Wolfgang Widera nur den alten Industriehafen in Offenbach, um zu überleben. Aber der verschwindet nach und nach.

Manche nennen ihn Hafenratte. Wolfgang hat nichts gegen Hafenratten, wenn sie ihm nicht gerade den Fisch aus dem Zelt fressen. Auch als Spitznamen ist das okay. Er trägt diesen und andere Namen wie Orden. Er hat sie nicht irgendwo aufgesammelt, sondern sich verdient. Wolfgang braucht nicht viel mehr als den ehemaligen Industriehafen in Offenbach, um zu überleben. Jedenfalls war das so, bevor dort Wohnungen, Einkaufsmöglichkeiten und Arbeitsplätze entstanden.

Doch ob er Hafenratte, Indianer, roter Baron oder einfach nur Wolfgang genannt wird – jeder im angrenzenden Nordend kennt den kleinen Mann Mitte vierzig, der gerne mit Sandalen und afrikanisch gemusterten Shorts herumläuft. Der gar kein echter Offenbacher ist, sondern gebürtig aus Sachsen-Anhalt kommt. Und Wolfgang kennt jeden.

Eine Weile hauste Wolfgang auf einem Schiff, das im Hafen vertäut war. Wenn ihm danach war, paddelte er mit einem Surfbrett durch das Hafenbecken und naschte von herunterhängenden Brombeeren am Ufer. Wenn er Geld brauchte, sammelte er Flaschen am King Kamehameha Beach Club an der Spitze der Insel. Sein Sohn, der bei Wolfgangs kamerunischer Ex-Freundin im Nordend lebte, half ihm oft. Wenn sein Lastenfahrrad voll war, brachte Wolfgang das Pfandgut in sein Boot und zog wieder los. An guten Tagen ließ sich so rund 70 Euro verdienen.

Seinen rötlich-weißen Bart rasierte er mit Wasser aus dem Main. „Ich habe nie Ausschlag oder Pickel bekommen“, sagt er. Auch sein Essen holte er oft aus dem Fluss. Zander, Spiegelkarpfen und Barsch schmorten regelmäßig in seiner Pfanne. Eines Tages brannte sein Schiff ab – weil der Ofen explodierte. Als er von Bord hechtete, zerbarsten gerade die Fenster. Später schlug Wolfgang sein Lager auf der Wiese neben der alten Ölhalle auf, in der Studenten der Hochschule für Grafik an ihren Werken arbeiteten und Partys feierten. Er mochte ihre Gesellschaft. Als Mitarbeiter der Stadtwerke ihn fragten, was er da auf ihrem Grundstück treibe, sagte er: „Ich schaue hier nur nach dem Rechten.“ Sie ließen ihn.

Bei den Grillfesten an der Ölhalle fiel immer etwas für ihn ab. „Eine Hand wäscht die andere“, sagt Wolfgang. Auch im „Hafengarten“ funktionierte dieses Lebensmotto. Auf der Brache, wo in Brotkisten, Autoreifen und selbst gebauten Hochbeeten Zucchini, Tomaten und Blumen sprießen, hegte er die Pflanzen einer Bekannten, und durfte sich dafür manchmal etwas abzweigen.

Eines Tages kam die Polizei zu seinem Stamm-Kiosk in der Bettinastraße. Monate zuvor war er mit 3,4 Promille beim Fahrrad fahren erwischt worden. Die Polizei hatte ihm den Geldstrafenbescheid an seinen Briefkasten an der Hafenmeisterei geschickt. Und später auch die Mahnungen. Wolfgang hatte aber seitdem nicht mehr reingeschaut.

Nun forderten die Polizisten 2000 Euro, die er nicht hatte. „Da habe ich eben 100 Tage in Preungesheim abgesessen. Aber das war nicht wie Gefängnis. Das war wie Jugendherberge.“ Wolfgang war für die Essensausgabe zuständig und musste Flur, Toiletten und Fernsehraum sauber halten. „Am Ende habe ich gefragt, ob sie eine Festanstellung für mich haben“, sagt Wolfgang. Er legt sein Seeräubergrinsen auf, meint es aber durchaus ernst. „Hat leider nicht geklappt.“

Nach seinem „Urlaub“, wie er seine Zeit dort nennt, war sein Iglu-Zelt natürlich weg, das im gleichen Blau gestrahlt hatte wie der alte Hafenkran an der Kaimauer. Auch die Ölhalle ist mittlerweile weg, genauso wie der legendäre Beach Club, der mit wildem Wein und Efeu eingewachsene Lokschuppen, in dem der „Hafen 2“ mit Konzerten, Kneipe und Kino für den kulturellen Aufschwung sorgte, und die Natur, die sich über die Jahre auf der Brache entwickelt hatte. Wenn er in den Morgenstunden vom „Robert Johnson“-Club über die Hafenflächen zu seiner damaligen Freundin lief, hat er oft einen Blumenstrauß gepflückt. Manchmal kreuzte auch ein Fuchs seinen Weg. Seit so viel gebaut wird, hat er keinen mehr gesehen.

Heute wohnt Wolfgang in einem Wohnheim der Diakonie und teilt sich mit einem anderen ein Zimmer. Wenn die Sonne scheint, legt Wolfgang sich gerne auf eine Bank an der neuen Hafentreppe. Die haben sie schön gemacht, findet er. Auch dass die Hafeninsel nun bebaut wird, findet er nicht schlecht, selbst wenn man noch nicht weiß, wie sie sich entwickelt. „Klar, lieb ich meinen Hafen trotzdem. Ich hab nur Angst, dass das Alternative weggeht“, sagt Wolfgang. „Es wird weggehen.“

Erschienen in der taz. am wochenende (12. September 2015)